Kein Rolli, keine Chance

An der Sommeruni „Disabability Studies – Behinderung neu denken“ kommen Behinderte zusammen, um gemeinsam neue Strategien zu entwickeln. Doch die Unterschiede sind größer, als die Veranstalter voraussehen konnten

Aus Bremen EIKEN BRUHN

Für Behinderte ist Ausgrenzung Alltag: In das Gebäude kommen sie nicht herein, weil es keinen Fahrstuhl gibt. Als Kinder werden sie in Sonderschulen abgeschoben. Die Stelle kriegen sie nicht, weil ihre statistische Lebenserwartung zu niedrig ist. Auf der seit Montag an der Bremer Universität laufenden Behinderten-Sommeruni „Disability Studies – Behinderung neu denken“ ist es einmal anders herum. Da erfahren die „Normalen“, wie es sich anfühlt ausgeschlossen zu werden. Nur Behinderte sind zu den Weiterbildungs-Veranstaltungen am Vormittag zugelassen. Alle anderen müssen draußen bleiben und auf den Nachmittag warten.

Der Sprecher der Sommeruni, Ottmar Miles-Paul, vergleicht die „Zulassungsbeschränkung“ mit Strategien der Frauenbewegung: „Wir brauchen genauso einen Raum für uns selbst, wo wir eigene Positionen entwickeln können.“ Menschen, die sich häufig von anderen helfen lassen müssen oder sogar bevormundet werden, würden es schätzen, auch mal schimpfen zu können. „Wenn man ständig mit Assistenten zu tun hat, auf die man ja angewiesen ist, tut es gut darüber mit Leuten zu reden, die das kennen.“

Doch genau wie bei der Frauenbewegung gibt es Kritik. Nicht nur von denjenigen, die ausgeschlossen werden – „das müssen die auch mal aushalten können“ – sondern auch aus den eigenen Reihen. „Ich tue mich schwer mit der Abschottung – vielleicht liegt es daran, dass ich auch ein Leben ohne Behinderung kenne“, sagt die 24-jährige Nadine Nullmeier, der vor vier Jahren ein Bein amputiert wurde. „Wir reden immer so viel von Integration, aber dann müssen wir auch auf die Menschen ohne Behinderungen zugehen“, findet sie. Die mit 18 Jahren jüngste Teilnehmerin Nora Sties sieht es ähnlich. Auch sie wünscht sich eine Öffnung. „Und ab wann gilt man denn als behindert? Wenn ein Finger fehlt oder erst der ganze Arm?“

Tatsächlich sieht man längst nicht allen der 300 fest angemeldeten Sommer-Studierenden aus Deutschland und Österreich ihre Behinderung an. Natürlich rollen überdurchschnittlich viele Rollstuhlfahrer durch die Flure, aber die Sehbehinderte erkennt man erst, als sie plötzlich verloren in der Mensa steht, weil ihre Gruppe sich zu schnell aus dem Staub gemacht hat. Wieder andere haben eine psychische Erkrankung oder ein verkürztes Bein, das im Sitzen nicht weiter auffällt. Einer lernt langsamer als andere. Die Bezeichnung „geistig behindert“ lehnt er ab.

Die Vielfalt der Behinderungen sei gewollt, sagt Sprecher Ottmar Miles-Paul. Schließlich habe man ein gemeinsames politisches Ziel: Gleichberechtigung ohne Bevormundung. Doch auf der zweiwöchigen Sommeruni wird deutlich, dass die Unterschiede nicht von allen wahrgenommen werden. Auf den Punkt gebracht: Der Rollifahrer denkt nicht unbedingt daran, was die Blinde braucht. So musste in einem Seminar erst darüber diskutiert werden, dass der Referent bei seiner PowerPoint-Präsentation sagt, was auf den Bildern zu sehen ist. Jetzt erklärt er, wie die Ikonen der Behindertenbewegung aussehen. „Ein Mann mit Cowboyhut, darauf eine amerikanische Flagge, statt Sternen ist ein Rolli-Symbol zu sehen“ oder „Eine Frau im Rollstuhl, sie lächelt.“

So verschieden wie die Behinderungen sind die Gründe, die Sommeruni zu besuchen. Während die einen sie als Forum für wissenschaftlichen Austausch nutzen wollen, steht für andere die Selbsterfahrung im Vordergrund. Das kann zu nervenaufreibenden Diskussionen in Vorlesungen führen, wenn die einen sich über zu viele Fremdwörter beschweren und die anderen keine Lust mehr haben, sich die x-te Lebensgeschichte anzuhören. „Das wäre schon okay, wenn klar wäre, an wen sich eine Veranstaltung richtet und wenn es nicht so durcheinander gehen würde“, kritisiert die Psychotherapeutin Sylvia Nagel. Die 38-Jährige kann außerdem überhaupt nicht verstehen, warum ausgerechnet auf einer Behindertenuniversität der Flyer und der Internetauftritt für Sehbehinderte praktisch unlesbar sind.

Doch missen möchte die Sommeruni niemand von denen, die sich beschweren. Dafür seien die Vorteile zu groß. Und für den Sommeruni-Sprecher Ottmar Miles-Paul sind die vielen kritischen Stimmen ein gutes Zeichen. „Die haben vollkommen Recht mit ihrer Kritik, aber das Gute daran ist, dass die Leute lernen, ihre Bedürfnisse selbst zu äußern.“ Das sei genau im Sinne der Sommer-Uni: Weg von der Fremd- hin zur Selbstbestimmung.