: Schüsse in den Nebel
„Der Irak wird Bushs Vietnam“, hat US-Senator Edward Kennedy kürzlich behauptet. Wirklich? Vietnam war ein anderer Krieg in anderer Zeit. Und doch könnte George W. Bush etwas aus dem Vietnamdesaster lernen: dass Rückzug manchmal die einzige Lösung sein kann
von STEFAN REINECKE und CHRISTIAN SEMLER
Der erfundene Feind:
Am 2. August 1964 kreuzte der US-amerikanische Zerstörer „Maddox“ vor der Küste Nordvietnams. Die USA stützten damals mit ein paar tausend Militärberatern und Undercover-Aktionen das proamerikanische Regime im Süden gegen den kommunistischen Norden. Nordvietnamesische Torpedoboote griffen die „Maddox“ an – offenbar im Irrglauben, es handle sich um ein südvietnamesisches Schiff. Der US-Zerstörer versenkte den Angreifer – die „Maddox“ hatte nur einen Blechschaden.
Zwei Tage später näherten sich wieder zwei US-Kreuzer der Küste des Golfs von Tonkin. Die US-Schiffe meldeten Angriffe der nordvietnamesischen Seite. Dieser Überfall am 4. August 1964 wurde zum historischen Datum. Die US-Regierung nutzte diese „militärische Provokation“ Nordvietnams zu der berühmten Tonkin-Resolution im Kongress. US-Präsident Johnson konnte fortan, ohne formelle Kriegserklärung, immer mehr Soldaten nach Vietnam schicken.
Den Angriff am 4. August hatte es nie gegeben. Er war eine Fantasie: geboren aus zweideutigen Radarbildern und dem innigen Wunsch, endlich mit der Bombardierung Nordvietnams beginnen zu können. Johnson wusste schon wenige Wochen später, dass „diese saudummen Matrosen nur auf fliegende Fische geschossen haben“. Doch die Doktrin der US-Politik, dass Vietnam den Kommunisten nicht in die Hände fallen dürfe, war stärker als Vernunft, Wirklichkeitssinn und Moral. Fünf Jahre später kämpften 540.000 US-Soldaten dort, nach knapp zehn Jahren zogen die USA sich aus einem Krieg zurück, den sie nie hatten gewinnen können.
Am 5. Februar 2003 erklärte Colin Powell im UN-Sicherheitsrat, dass Saddam Hussein über mobile Labors zur Produktion von Biowaffen verfüge und über bis zu fünfhundert Tonnen chemischer Kampfstoffe. Saddam ziele auf die Produktion von Atomwaffen, außerdem wären im Irak Al-Qaida-Terroristen im Umgang mit Biowaffen geschult worden. Zum Beweis präsentierte Powell vor dem Sicherheitsrat der UNO Satellitenbilder jener Waffenlaboratorien. „Hier wird“, so Powell, „getäuscht, versteckt und verborgen.“ Das stimmte, allerdings anders als behauptet.
Die Fakten verbog weniger das Saddam-Regime als die Bush-Regierung, die die Öffentlichkeit von Alarmmeldungen über Urankäufe des Irak in Niger bis zu einem erfundenen Treffen des Terroristen Mohammed Atta mit einem irakischen Geheimagenten in Prag manipulierte. Alles Fake. Saddams Massenvernichtungswaffen waren Fantasien – wie die Schüsse der nordvietnamesischen Torpedoboote am 4. August 1964. Doch die Doktrin, dass Saddam mit Bomben gestürzt werden müsse, war stärker als Wirklichkeitssinn, Vernunft und Moral. Sechs Wochen später bombardierten die USA Bagdad. Heute stehen mehr als 140.000 US-Soldaten im Irak.
Beide Kriege begannen mit Inszenierungen des Feindes, mit denen eine widerstrebende Öffentlichkeit überrumpelt wurde. Die Inszenierungen der Bush- und der Johnson-Regierung offenbaren aber noch etwas anderes als gezielte Manipulation – sie zeigen einen Wahrnehmungsdefekt. George W. Bush beharrt, trotz des eindeutigen Berichts einer US-Kommission, darauf, dass Saddam und al-Qaida gemeinsame Sache machten: „Ich bestehe deswegen immer wieder darauf, dass es eine Verbindung zwischen dem Irak und al-Qaida gab, weil es eine Verbindung zwischen dem Irak und der al-Qaida gab“, so Bush nach Veröffentlichung des Berichts.
Dieses Beharrungsvermögen ist mehr als nur Rechthaberei: Es zeigt eine tief greifende Unfähigkeit, sich ein realistisches Bild vom Feind zu machen. Für Bush müssen Saddam und al-Qaida gemeinsame Sache gemacht haben, so wie für die US-Regierungen seit den Fünfziger- bis in die frühen Siebzigerjahre Vietcong, Nordvietnam, Moskau und Peking gemeinsame Sache machten. Diese „Achsen des Bösen“ waren damals wie heute Angstprojektionen, Ergebnis einer abstrakten Machtlogik, die den Blick auf die Realität verstellt.
Die Dominotheorie
Ein Beispiel dafür ist die zähe Existenz der Dominotheorie. Die politische Metaphorik spricht zu uns in simplen, drastischen, unmittelbar einleuchtenden, weil vertrauten Bildern. Bei dieser Art von Metaphorik geht es darum, angesichts der angeblich lebensbedrohenden Gefahr Loyalität einzufordern und gleichzeitig den rettenden Ausweg zu weisen.
So verhielt es sich mit der Metapher von den fallenden Dominosteinen, die das politische Denken in den USA jahrzehntelang gefangen hielt. Das Geburtsdatum der Dominotheorie war der 7. April 1954. Damals erklärte US-Präsident Dwight Eisenhower, wenn in Vietnam die „freie Welt“ unterliege, würden ganz Südostasien und der Südpazifik zur Beute der Kommunisten. Nach dem Sieg Maos in China grassierte die Angst vor einer weiteren „roten“ militärischen Expansion. Aber diesen Ängsten folgend, fügten sich gänzlich unterschiedliche politische und gesellschaftliche Konfrontationen zu einem einzigen, weltweiten Bedrohungsszenario. „Der Kreml“, das war die Spinne inmitten des Netzes. „Südostasien ist das Ziel einer vom Kreml gelenkten, koordinierten Offensive“, ließ der Nationale Sicherheitsrat der USA verlauten.
Es mangelte in den Sechzigern in den USA nicht an kritischen Stimmen, die die geschichtlichen Grundtatsachen in Indochina berücksichtigten: etwa die jahrhundertelangen Auseinandersetzungen Vietnams mit dem chinesischen Expansionismus in vorkolonialer Zeit. Und den absoluten Vorrang des Kampfs um nationale Selbstbestimmung bei den vietnamesischen Kommunisten und Ho Chi Minh. Und doch dauerte es endlos lange, bis sich die US-Regierungen aus den Fängen der Dominotheorie befreiten. Sie bestimmte die Politik Kennedys wie die seines Nachfolgers Lyndon B. Johnson.
Selbst die rational operierenden, dem Kosten-Nutzen-Kalkül verpflichteten Expertenstäbe der Sechzigerjahre ließen von den Dominosteinchen nicht ab. Jetzt allerdings bestand der Dominoeffekt nicht mehr im imaginierten Zusammenbruch der nichtkommunistischen Welt Südostasiens, sondern im Verlust amerikanischer Glaubwürdigkeit, der weltweit fatale Folgen für die USA zeitigen würde. Noch die Ausweitung des Krieges auf Laos und Kambodscha unter Präsident Nixon folgte dieser Logik, ehe sie sich nach dem Triumph der Befreiungsfronten Indochinas 1975 als substanzlos erwies.
In einer paradoxen Drehung wird heute die Dominometapher von den Neokonservativen genutzt, um den Sturz des Saddam-Regimes im Irak als Beginn einer Kettenreaktion darzustellen, an deren Ende ein friedlicher, demokratischer und prosperierender Naher Osten stehen wird. Die Neo-Cons argumentieren, ein demokratischer, ökonomisch liberalisierter Irak werde kraft seines Wohlstands wie der Freiheit seiner Bürger unwiderstehliche Anziehungskraft auf die arabischen Massen in der Region ausüben. Vom Irak werde der „wind of change“ ausgehen – dies umso mehr, als es in der Region zum großen Teil um „failed states“ gehe, um Staatskonstruktionen der postkolonialen Ära, die nur von korrupten Machteliten zusammengehalten würden.
Diese neue Doktrin ist keine Angstprojektion, aber sie folgt dem gleichen abstrakten Schematismus, der schon die „alte“ Dominotheorie auszeichnete, und vernachlässigt Geschichte und Mentalität der betroffenen Völker. Im besetzen Irak wird die Bevölkerung nicht mit Flächenbombardements und Zwangsumsiedlungen traktiert. Aber bereits jetzt sind ihr auf politischem und ökonomischem Gebiet Vorentscheidungen aufgezwungen worden, die einer künftigen selbstbestimmten Politik entgegenstehen. Hinter der Vorstellung des künftigen freien arabischen Bürgers verbirgt sich bei den Neokonservativen eine im Grunde verächtliche Auffassung, die Demütigung und verletzten Stolz als atavistische Gefühlsregungen ansieht, die unter der Sonne von Freiheit und Wohlstand wegschmelzen werden.
Aber ist die neue Dominotheorie nicht sowieso bloßer Schein gewesen, vorgetragen, um der politischen wie ökonomischen Kontrolle der Region zur demokratischen Legitimation zu verhelfen? Ideologische Konstruktionen dieser Art oszillieren stets zwischen Täuschung und Selbsttäuschung. Einmal in die Welt gesetzt, tendieren sie dazu, das Handeln der Machteliten zu bestimmen.
Was ist ähnlich, was verschieden?
Der US-Diplomat und Fernostexperte James C. Thomson entwarf 1968 in seiner berühmten Abrechnung „How could Vietnam happen – an autopsy“ ein Psychogramm der Strategen des Vietnamkrieges. Die Planer des Krieges, so Thomson, „haben den internationalen Beziehungen einen neuen missionarischen Impuls gegeben. Dieser Impuls speist sich erstens aus unserer als unüberwindlich empfundenen militärischen Macht. Zweitens aus unserer technologischen Überlegenheit und drittens aus unserem ‚Wohlwollen‘. Wir haben diesen Strategen zufolge die Möglichkeit und die Pflicht, den Weg der Nationen dieser Erde zu Modernisierung und Stabilität zu erleichtern – unter dem Mantel einer ‚Pax Americana Technocratica‘.“
Sounds familiar – wenn man heute die Manifeste der Neokonservativen liest. So unterschiedlich die Antriebskräfte der damaligen und heutigen US-Verantwortlichen sein mögen, sie eint die Inbrunst, mit der sie der imperialen Mission der USA anhängen.
So machen die USA ähnliche politische Fehler wie in Südvietnam. Auch im Irak stützen sie ihnen gefällige Machtcliquen, ohne viel Rücksicht auf deren Akzeptanz im Land. Im Irak setzten sie zuerst auf den inzwischen in Ungnade gefallenen Ahmed Chalabi, der die Bush-Regierung vor dem Krieg mit der Verheißung beglückt hatte, dass die US-Truppen in Bagdad wie in Paris 1944 bejubelt würden. Der neue Mann der USA ist nun Ministerpräsident der Übergangsregierung: Ajad Allawi, seit dreißig Jahren mit der CIA verbandelt.
In Vietnam konnten die USA auf die Rückendeckung durch die antikommunistische upper middle class bauen. Im Irak haben sie, statt um diese für das nationbuilding zentrale Gruppe zu werben, Milliardenaufträge für den Wiederaufbau dreist an US-Firmen vergeben (die teils auch noch Regierungsmitgliedern nahe stehen). Diese Egozentrik, die aus Überheblichkeit geborene Unfähigkeit, Verbündete zu gewinnen, erinnert tatsächlich an Vietnam. Und wie jede Besatzungsmacht verfangen sich auch die USA im Irak in einer Gewaltspirale: Je mehr Gewalt sie – oft aus blanker Unkenntnis und Ignoranz – gegen Unbeteiligte anwenden, desto stärker wird der Widerstand. Je stärker der Widerstand wird, desto gewalttätiger treten die Besatzer auf, und so fort. Die US-Besatzer sind, wie in Vietnam, das Problem, das sie zu lösen versuchen.
Und doch sind die Unterschiede unübersehbar. Gerade die moralisch gefärbte Antikriegsrhetorik droht manchmal den Unterschied des Gewaltniveaus zu verschleiern. Auch im Irak haben, laut glaubhaften Menschenrechtsorganisationen, die US-Befreier Frauen vergewaltigt. Beim Versuch, Falludscha zu erobern, haben US-Scharfschützen gezielt unbeteiligte Zivilisten getötet, in Abu Ghraib wurde systematisch gefoltert. Doch das ist wenig im Vergleich mit der entfesselten Barbarei der US-Kriegsmaschinerie in Vietnam, die so monströs war, dass man Abu Ghraib und das Massaker von My Lai kaum in einem Atemzug nennen kann. Nichts im Irak entspricht dem Terror der Flächenbombardements, nichts dem seit 1966 alltäglichen massenhaft exekutierten Terror von GIs gegen Zivilisten, nichts dem fortschreitenden Zerfall der US-Armee, in der die Tötung unbeliebter Offiziere durch GIs zeitweise an der Tagesordnung war. Das Paradox des US-Kriegs in Vietnam brachte ein Offizier nach der Tet-Offensive 1968 trefflich zum Ausdruck, der vor laufenden TV-Kameras erklärte: „Wir müssen Ben Tre zerstören, um es zu retten.“
Die USA scheinen sich im Irak zumindest bewusst zu sein, dass dies kein vielversprechender Plan ist. So beendete die US-Armee die Belagerung von Falludscha – offenkundig, weil der Preis eines militärischen Sieges eine politische Niederlage gewesen wäre. Aber auch diese taktische Einsicht befreit die USA keineswegs aus ihrem zentralen Dilemma im Irak: ihren widersprüchlichen Zielen.
Wo, bitte, geht’s zum Ausgang?
Die US-Historikerin Barbara Tuchman bemerkte seinerzeit zur Vietnampolitik der USA: „Die Torheit der US-Regierung bestand nicht darin, dass sie Ziele in Unkenntnis ihrer Hindernisse verfolgte, sondern darin, dass sie an diesem Ziel festhielt, obwohl sich die Anzeichen dafür mehrten, dass es unerreichbar war.“ Die USA wollten mit dem Bombenkrieg und immer mehr GIs die Infiltration des Südens stoppen – und übersahen, warum dies unmöglich war. Das südvietnamesische Regime war morsch. Die Dollarmillionen versickerten, die Waffen landeten in den Depots der Befreiungsfront. Nordvietnam war mit Bomben nicht in die Knie zu zwingen. So taumelten die USA in eine selbst verschuldete Eskalation ohne Ziel.
Tuchmans Beobachtung mutet aktuell an. Heute verfolgen die USA im Irak vier Ziele, die schwerlich auf einen Nenner zu bringen sind. Erstens: Die US-Armee soll mittelfristig abziehen, schon weil die US-Öffentlichkeit tote GIs nicht lange achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Zweitens: Die USA wollen strategisch wie ökonomisch die Kontrolle über den Irak behalten. Drittens: Der Irak soll ein einheitlicher Staat bleiben – Bürgerkrieg und „Afghanisierung“ des Landes sollen verhindert werden. Und viertens: Der Irak der Zukunft soll demokratisch sein und säkular.
Diese Ziele sind widersprüchlich, ja sie schließen sich gegenseitig aus. Jeder weitere Tag der Besetzung facht den Zorn gegen die USA an, verringert die Chance, dass eine den USA zumindest neutral gegenüberstehende Regierung etabliert werden kann. Entweder wird einer künftigen Regierung tatsächlich die volle Souveränität übertragen, einschließlich der Entscheidung über das Militär, die Ölressourcen und den Wiederaufbau des Landes; dann laufen die USA Gefahr, aus dem Land komplimentiert zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Oder sie bleiben Hegemonialmacht; dann steht künftigen irakischen Regierungen das gleiche Schicksal wie den wechselnden südvietnamesischen Marionettenregimen bevor.
Demokratisierung des Irak und des Nahen Ostens und US-Hegemonie – dieses ideologische Konstrukt ist erledigt. Jetzt heißt es klipp und klar: Entweder Demokratie für den Irak oder US-Kontrolle. In den nächsten Tagen wird der US-Zivilverwalter Paul Bremer formal die Macht an die Regierung des Ex-CIA-Mitarbeiters Ajad Allawi übergeben. Dieser Akt ist einstweilen nicht mehr als ein Fake, nur die Inszenierung von Souveränität. Die Allawi-Regierung wird nur dann wirklich regieren können, wenn die USA sich zurückziehen.
Kann die US-Politik den Ausweg aus dem Spiegelkabinett der eigenen Irrtümer und zurück zur politischen Rationalität finden? Das ist zweifelhaft, denn die Rücksicht aufs Weltmachtprestige wie George W. Bushs Angst, als historischer Versager in die Geschichte einzugehen, blockieren die Umkehr. Hier sind die Parallelen zum Vietnamkrieg unübersehbar. US-Präsident Lyndon B. Johnson, gestützt auf einen überwältigenden Wahlsieg, schlug 1964/65 alle Vermittlungsbemühungen, die auf eine Neutralisierung ganz Vietnams und auf eine Koalitionsregierung unter dem Einfluss der FNL und Hanois hinausgelaufen wären, in den Wind. Diese Vorschläge hätten damals gute Aussichten gehabt, von Ho Chi Minh akzeptiert zu werden, aber die USA wollten einen Verhandlungsfrieden zu ihren Bedingungen herbeibomben. Deshalb verloren sie am Schluss alles.
Natürlich, am Ende sind wir stets die Klugen. Dennoch lehren die Auseinandersetzungen der Sechzigerjahre in den USA, dass es eine realistische Alternative zum „Immer weiter so!“ gab und dass diese Alternative keineswegs den Abstieg der USA in der Systemkonkurrenz mit dem „sozialistischen Lager“ zur Folge gehabt hätte. Denn dieses Lager hatte bereits damals unheilbare Risse, und alles hätte dafür gesprochen, dass Vietnam seinen eigenen Weg gehen wird.
Wie sähe die Alternative heute aus? Sie liegt auf der Hand, und selbst Autoren der politischen Klasse wie der ehemalige Präsidentenberater Zbigniew Brezinski vertreten sie. Die Dokrin von der per Krieg erzwungenen „demokratischen Transformation“ des Nahen Ostens muss begraben, das Projekt einer ökonomischen und politischen US-Hegemonie über den Irak fallen gelassen werden. Der Irak braucht die volle Entscheidungsfreiheit über sein künftiges Staatswesen. Für die Übergangszeit muss die UNO die Treuhandschaft für Sicherheit und Zusammenhalt des Irak übernehmen.
Auch dieser Lösungsweg ist mit unwägbaren Risiken behaftet: Zerfall des Staates, Bürgerkriege (auch wenn das Interesse der Nachbarstaaten von Syrien bis zum Iran an einem einheitlichen Irak meist unterschätzt wird). Aber er eröffnet eine Option von Frieden und Entwicklung, die bei der Fortdauer der US-Hegemonie undenkbar ist.
Dieser Rückzug wäre keine Katastrophe für die USA, so wenig wie es ein Rückzug aus Vietnam 1966 gewesen wäre. Der Fall Saigons 1975 hat für die USA ein historisches Kapitel geschlossen und ein neues geöffnet. Die USA verloren zwar den Krieg, aber wer den Frieden gewonnen hat, ist fraglich. Im früheren Saigon ist der Dollar längst wieder die Hartwährung, die vietnamesische Jugend träumt den amerikanischen Traum von Reichtum und Glamour. Den Irakkrieg hingegen haben die USA rasch gewonnen – nun sind sie dabei, den Frieden zu verspielen.
Der konservative Denker Edmund Burke, ein „old con“, hat einst geschrieben, dass Großmächte sich durch „die Macht auszeichnen können, sich einen Gesichtsverlust zu leisten, die Macht, einen Irrtum einzugestehen, die Macht, mit Großmut zu handeln“. Das ist von George W. Bush und den von der eigenen Übermacht geblendeten und von dem Al-Qaida-Terror hypnotisierten US-Strategen kaum zu erwarten. Im Fall Irak würde es reichen, eine Lektion aus Vietnam zu beherzigen, nämlich dass die Unfähigkeit, unerreichbare Ziele fallen zu lassen und das eigene Scheitern anzuerkennen, schlimmere Folgen haben kann als das Scheitern selbst.
STEFAN REINECKE, 45, ist Autor der taz und des Buchs „Hollywood goes Vietnam. Der Vietnamkrieg im US-amerikanischen Film“ (1993). CHRISTIAN SEMLER, 65, ist Autor der taz und war von 1965 bis 1975 in der Antivietnamkriegsbewegung in Deutschland aktiv