: „Die Hure unter den Eisenbahnen“
Auf der Bakerloo-Linie durch London. In der U-Bahn gibt es keine Klassengesellschaft, dafür die unterschiedlichsten Menschen und Bezirke. Mal riecht es nach Rasierwasser und dann nach Curry und Tikka Massala. Über die U-Bahn gibt es Bücher, Gedichte und Wetten. Ein Streifzug durch den Underground
AUS LONDON RALF SOTSCHECK
Als sich die Tür schließt, springt noch einer auf und bleibt mit seiner Aktentasche hängen. Die Tür geht knarrend auf und schließt sich wieder. Ruckelnd setzt sich die U-Bahn in Bewegung. Es ist acht Uhr morgens. Wir sind am Bahnhof Elephant & Castle eingestiegen, der Endstation der Bakerloo-Linie im Süden Londons. Auf dem Fahrplan ist sie braun markiert, das weiß man, wenn man täglich U-Bahn fährt.
John Wolff fährt täglich U-Bahn, wenn auch nicht die ganze Bakerloo-Linie. Er arbeitet als Programmierer in einer kleinen Computerfirma in Marylebone am Nordrand der City. John ist Anfang 50, er ist mit Jeans und Windjacke bekleidet, weil er heute nicht zur Arbeit muss. Stattdessen erklärt er mir die „Tube“, wie die Londoner ihre Untergrundbahn liebevoll nennen. Er beschäftigt sich seit 30 Jahren damit, er ist nicht bloß Passagier, sondern Experte.
Elephant & Castle ist ein riesiger Kreisverkehr. Die Gegend ist ein wenig schäbig, der Imbiss neben dem U-Bahn-Eingang ist geschlossen. Im Eingang des Bahnhofs zeigt ein Wandmosaik den Platz um das Jahr 1912. Damals sah er mit seinen alten Gebäuden und der Straßenbahn recht stattlich aus. Neben dem Mosaik warnt ein Schild, dass es 124 Stufen bis zum Bahnsteig seien. Wir nehmen den Lift. Unten wartet die rotweiße Bahn.Unser Waggon ist fast leer, bis auf den Mann mit der Aktentasche, der noch außer Atem ist, und einen Jamaikaner, der lauthals schimpft. In Lambeth North steigt niemand ein oder aus. Doch die nächste Station ist Waterloo.
„Jetzt kommen die höheren Bankangestellten, die Börsenmakler und die Politiker“, sagt John, „Leute, aus denen etwas geworden ist. In der Tube gibt es keine Klassengesellschaft, dafür hat der Straßenverkehr gesorgt. Wer es sich leisten kann, wohnt in den Vororten in Surrey und fährt mit dem Vorortzug nach Waterloo, wo er in die U-Bahn umsteigt. Außerdem ist Waterloo auch der Eurostar-Bahnhof für die Züge aus Frankreich, und so mancher Bankier hat sich ein Haus in der Normandie gekauft und fährt mit dem Eurostar zur Arbeit. Es dauert nicht länger als mit dem Auto von einem Ende Londons ins andere.“
Inzwischen herrscht Berufsverkehr, Männer in Nadelstreifenanzügen zwängen sich in den Waggon. Einer trägt einen Bowlerhut und einen Stockschirm, unter dem Arm hat er die Financial Times. Ob er vom Fremdenverkehrsamt bezahlt wird? Es riecht nach Rasierwasser. „Die letzte U-Bahn heute Abend riecht nach Curry und Tikka Massala“, behauptet John. „Das Publikum auf der Bakerloo Line wechselt nicht nur stündlich, sondern auch alle paar Stationen.“
In Charing Cross und Piccadilly Circus steigen die meisten Nadelstreifenanzugträger aus. Nach Charing Cross verlassen wir die Northern Line, die seit Waterloo parallel zur Bakerloo Line verlief. „Die Northern Line ist die älteste unterirdische Bahnstrecke der Welt, 1890 wurde sie in Betrieb genommen“, sagt John. „Außerdem ist sie heute noch das längste komplett unterirdische Teilstück, 28 Kilometer. Ein Viertel aller Selbstmorde geschehen auf diesem Stück.“
Die Linie ist im Lauf der über hundert Jahre ziemlich herabgewirtschaftet worden und benötigt dringend viele Millionen Pfund, um sie wieder auf Vordermann zu bringen – wie eigentlich fast das gesamte U-Bahn-Netz. Doch der Plan des britischen Premierministers Tony Blair, Privatinvestoren für das 16-Milliarden-Pfund-Projekt heranzuziehen, ist vorerst auf Eis gelegt.
Keith Lowe, der ein Buch über eine Wette geschrieben hat, sämtliche 265 U-Bahn-Stationen Londons an einem Tag abzufahren, behauptet, er erkenne die Northern Line am Geruch. „Wenn die U-Bahnen die Huren unter den Eisenbahnen sind, dann ist die Northern Line die verlebteste, ausgezehrteste dieser Stadt“, schreibt er.
Am Piccadilly Circus kommen die Touristen. Es sind vor allem Japaner, die schon so früh auf den Beinen sind. Europa in fünf Tagen, da muss man sich sputen. An der nächsten Station, Oxford Circus, steigen sie wieder aus. Oxford Street ist die vornehmste Einkaufsmeile der englischen Hauptstadt, obwohl es zwischen den exklusiven Boutiquen und Kaufhäusern eine ganze Reihe von billigen Elektroläden gibt. Der Bahnhof mit seinen grünen Mosaiken ist eher schlicht.
Am Regent’s Park leert sich die Bahn, die meisten sind um diese Zeit in umgekehrter Richtung in die City unterwegs. Langsam rollt der Zug durch den Bahnhof, die Wände sind mit der Mosaik-Silhouette von Sherlock Holmes und seiner typischen Mütze und Pfeife geschmückt. Der berühmte Detektiv hat oben, nicht weit vom Bahnhof, eine Weile gewohnt, so steht es in den Büchern von Arthur Conan Doyle. Das Haus, das er beschrieben hat, ist heute ein Museum.
1906, als die Bakerloo Line eröffnet wurde, war hier Endstation. Woher kommt der Name für diese Linie? „Früher hieß sie Baker Street and Waterloo Line“, erklärt John Wolff. „Das hat man dann zusammengezogen.“ In den Kindertagen der U-Bahn konnte man morgens eine U-Bahn mit einem exklusiven Speisewagen in der Station Baker Street beobachten. Männer im Frack, die aus dem damals vornehmen Northwood in die Innenstadt zur Arbeit fuhren, bekamen ihr Frühstück auf weißen Tischtüchern mit Silberbesteck serviert. Im Zweiten Weltkrieg war der Service weniger vornehm. Die U-Bahn diente als Bunker, zuerst nur die stillgelegten Strecken, später auch andere. „Die Züge versorgten die Schutzsuchenden die ganze Nacht mit Lebensmitteln“, sagt John, „und zu Weihnachten hatten sie Spielzeug für Kinder an Bord.“
Scott Thompson, ein Fotograf aus Hammersmith, ist sämtliche Londoner U-Bahn-Strecken abgelaufen – allerdings überirdisch. Dazu benutzte er ein Hörrohr, mit dessen Hilfe er den Streckenverlauf verfolgte. Er hat Ken Livingstone vorgeschlagen, die U-Bahn-Linien auf der Straße nachzuzeichnen, in der jeweiligen Farbe, den die Linie auf dem Fahrplan hat. „So könnten die Menschen die nächstgelegene Station leichter finden“, sagt er, „außerdem würde es die Straßen verschönern, wie zum Beispiel Baker Street, wo die verschiedenen Linien kreuz und quer über die Straßen verlaufen würden.“
Kurz vor der Station Queen’s Park kommt die U-Bahn ans Tageslicht – für die Passagiere eine willkommene Abwechslung, denn sie vermeiden stets sorgfältig den Blickkontakt. Die einen haben bisher die Werbung über den Fenstern studiert, die anderen haben Zeitung gelesen. Wer sich nicht für Werbung interessiert und die Zeitung vergessen hat, kann sich an Gedichten erfreuen. „Poems in the Underground“, so heißt das Programm, das die Verkehrsbetriebe schon in den Achtzigerjahren ins Leben gerufen haben. Nur selten noch hängen die Gedichte in den Waggons, aber jemand hat ein winziges Heftchen, so groß wie zwei Streichholzschachteln, gedruckt von den Verkehrsbetrieben, auf dem Sitz liegen gelassen. „12 years old in 1992“ heißt das vierseitige Gedicht eines nicht genannten Poeten. „Mein Name ist nicht wichtig, ich bin ein Junge aus einem Land, das gerade einen Krieg hatte, den ich nicht verstand“, beginnt es. Ein Antikriegsgedicht. Wenn Tony Blair das wüsste.
Die Vorortlandschaft mit ihren braunen Reihenhäusern ist eher langweilig. Um mich zu unterhalten, erzählt John, dass der Immobilienmakler Richard Guthrie einen Wettlauf mit der U-Bahn ins Leben gerufen habe. „Jeden zweiten Montag im April steigt er mit ein paar Freunden im Bahnhof Victoria in den Zug in Richtung Wimbledon ein. Alle sind mit Smoking und Hosenträgern bekleidet. In South Kensington steigen sie aus und sprinten die Fulham Road hinunter, um in Fulham Broadway – vier Stationen und zweieinhalb Kilometer weiter – wieder in denselben Zug zu steigen. Das schaffen nur wenige, es sei denn, der Zug bleibt unterwegs stehen.“
Die Chancen dafür stehen gar nicht schlecht. Unsere Bahn bleibt auf offener Strecke zwischen Stonebridge Park und Wembley Central stehen. Durch das schnarrende Lautsprechersystem entschuldigt sich der Zugführer für den außerplanmäßigen Aufenthalt und verspricht, dass es bald weitergeht. „Wahrscheinlich hat sich mal wieder einer vor den Zug geworfen“, mutmaßt John.
In Harrow and Wealdstone ist unsere Reise nach 14 Meilen und 25 Stationen zu Ende. Für Harrow muss man den linken Ausgang nehmen, nach Wealdstone geht es über eine Treppe nach rechts. Hierher verirrt sich kein Tourist. Auf der kurzen Hauptstraße gibt es einen Halal-Imbiss, ein paar orientalische Restaurants und mehrere Gebrauchtwarenläden. Die Straßen sind leer. „Wir haben für die gesamte Strecke nur gut eine Stunde gebraucht“, sagt John. Mit dem Auto hättest du dafür mehr als doppelt so lange gebraucht. Ist die Tube nicht großartig?“ Ja, das ist sie. Aber was will ich in Wealdstone?