: Eine Frage der Perspektive
Früher war es der Staat, der Geld in Not leidende Branchen pumpte. Heute üben Arbeiter Lohnverzicht, um ihren Job zu retten
VON ULRIKE HERRMANN
Die Nachricht scheint bestens in die allgemein depressive Stimmung zu passen: Nun ist auch noch die Handy-Produktion in Deutschland zu teuer! 30 Prozent liegen die Herstellungskosten hier höher als in Ungarn, wo Siemens genauso gut fertigen könnte. Gibt es ein Standortproblem Deutschland? Das hängt von der Perspektive ab.
Da ist zunächst die betriebswirtschaftliche Perspektive, die Sorge um die jeweilige Firma. Es ist der Blick der Siemens-Manager – und auch der Beschäftigten in den beiden konkurrenzschwachen Handy-Betrieben. 2.000 von 4.500 Jobs waren in Bocholt und Kamp-Lintfort gefährdet. Jeder der Betroffenen brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass es schwer werden würde, in Nordrhein-Westfalen eine neue Stelle zu finden. Also waren die Mitarbeiter zu massiven Einbußen bereit: Die Arbeitszeit steigt von 35 auf 40 Stunden, Urlaubs- und Weihnachtsgeld werden gestrichen. Falls die Firmen Gewinn erwirtschaften, gibt es eine Prämie. Zwei Jahre läuft die Einigung, danach will man weitersehen. Allerdings, so die Siemens-Zusage, würden in der Zwischenzeit 30 Millionen Euro in neue Produkte und Technologien investiert.
Diesen betriebswirtschaftlichen Blick haben natürlich auch andere Betriebe. DaimlerChrysler will längere Arbeitszeiten, sonst würde die neue Mercedes C-Klasse nicht in Deutschland produziert. Das würde etwa 10.000 von 160.000 Arbeitsplätzen betreffen. Auch bei MAN laufen Verhandlungen, ebenso bei diversen Mittelständlern.
Neben diesem betriebswirtschaftlichen Blick existiert aber auch die volkswirtschaftliche Perspektive. Und mit dieser Brille versehen, wirkt die deutsche Konkurrenzfähigkeit geradezu blendend: Auch in diesem Jahr steigen die Ausfuhren rasant an, im April lag das Plus gegenüber dem Vorjahr bei 15,7 Prozent. Das sind die jüngsten Zahlen.
Die Exporte nehmen jedoch nicht nur zu – sie liegen auch stets über den Einfuhren. Das bedeutet: Seit Jahrzehnten importiert Deutschland Arbeitsplätze. Viele Jobs gibt es hier nur, weil das Ausland gern deutsche Waren kauft, statt sie daheim selbst zu produzieren. Angesichts dieses Dauertrends wirkt es volkswirtschaftlich nicht allzu dramatisch, wenn ein paar Jobs Deutschland verlassen, um sich im Ausland anzusiedeln.
Zudem dürfte eine solche Verlagerung von Jobs – und damit Löhnen – wiederum die Nachfrage nach deutschen Produkten ankurbeln. Im April, also noch vor der Osterweiterung, gingen über 50 Prozent der deutschen Exporte in EU-Länder. In die Beitrittsländer wiederum exportiert Deutschland inzwischen mehr als in die USA. Diese Ausfuhren dürften rasant steigen, falls sich die Hoffnung der Osteuropäer erfüllt, dass sie noch stärker wachsen, wenn sie zur EU gehören. Das ist doch eigentlich ein gutes Geschäft: Alle EU-Staaten finanzieren die Erweiterung, und Deutschland profitiert besonders.
Dennoch, so ließe sich argumentieren, kann es ja nie schaden, so viele Jobs in Deutschland zu halten wie nur möglich. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass dazu stets Subventionen nötig sind. Bei den Handy-Betrieben von Siemens sind es die betroffenen Arbeitnehmer, die ihre Firma unterstützen, indem sie ihre Lohnkosten freiwillig um 30 Prozent senken. Früher hingegen war es meist der Staat, der Geld in Not leidende Branchen pumpte. Beispiele sind die Werften, Stahlhütten, Kohlegruben und Bauernhöfe. Doch musste man immer wieder feststellen: Unproduktive Arbeitsplätze lassen sich nicht retten, wenn sie dem globalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Wahrscheinlich werden also auch die Handy-Betriebe von Siemens nicht dauerhaft überleben.
Deutsche Arbeitnehmer können nicht konkurrieren, indem sie ihre Löhne subventionieren – sie müssen ihre Löhne wert und unersetzbar sein. Deswegen lautet ja eine der wenigen Einsichten, die alle teilen: Deutschland muss mehr in die Bildung investieren. Jetzt fehlt nur noch die Umsetzung.