jugend liest : Geniale Faulpelze
Es ist Winter, es müsste schneien und frieren. Und wenn es schon nicht schneit, dann müsste man sich doch wenigstens die Bettdecke über den Kopf ziehen. Winterschlaf wäre jetzt was Feines. Einfach Augen zu, schnarch, schnarch, träum, träum, Augen wieder auf, und es ist Frühling. Aber Winterschlaf ist etwas für Faulpelze, und Faulpelze haben gerade gar keinen guten Ruf. Bloß keine Zeit verlieren, man könnte etwas verpassen. Was eigentlich? Das nächste Praktikum? Den nächsten „Tatort“? Schlimmer: die Zukunft. Unerbittlich stopft die Generation Lebenslauf deshalb noch das kleinste Sekundenloch mit biografisch Verwertbarem. Sonst denken potenzielle Arbeitgeber noch, da wäre jemand faul gewesen.
Für die Generation Lebenslauf kommt das Lexikon der Faulpelze also wie gerufen. G-8-gestählte Dreizehnjährige müssen dieses Buch so was von exotisch finden, das können Leute wie ich, die der zeitverschwenderischen Generation fünfzig minus angehören, sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Die Schule in einem Rutsch zu Ende gemacht hat von den hier vorgestellten Genies kaum einer, stattdessen Umwege, Abwege, Abbrüche, Aufbrüche. Faul in allem, was andere von einem verlangen, fanatisch vertieft in alles, was man selber gerne tut und interessant findet. Die Lehrer haben dafür selten Verständnis und fällen ihre harten, hirnigen Urteile: Guiseppe Verdi – vom Mailänder Konservatorium abgelehnt. John Lennon – rasselt voll durch die Prüfungen. Albert Einstein – galt als begriffsstutzig, weil er nicht verstehen konnte, wozu Vorschriften gut sein sollen. Außerdem fand er Sport „ätzend“.
Etliche der genialen Schulverweigerer sind Underdogs. Jack London zum Beispiel: Sein Vater unbekannt, die Mutter versucht vor der Geburt, sich das Leben zu nehmen, der kleine Jack kommt in Pflege, später wieder zur Mutter – sichere Bindung sieht anders aus. Ein ähnliches Schicksal hatte François Truffaut: Vater unbekannt, Mutter noch keine zwanzig, gibt das Baby in Pflege, später kommt er zur Oma. Das Ergebnis: François ist ein kränkelndes, gereiztes, überempfindliches Kind mit manisch-depressiven Zügen. Wahrscheinlich hätte er sich gut mit André Malreaux verstanden, der ein kranker, schüchterner, nervöser Junge war. Abraham Lincolns Mutter ist Analphabetin, der Bruder stirbt früh, der kleine Abraham muss aufs Feld arbeiten statt in die Schule. Arbeit, Elend, Unglück, so beschreibt der 16. US-Präsident seine Kindheit. Eine Bedingung für Genialität ist eine traumatische Kindheit allerdings nicht. Picasso war ein glückliches Kind, ebenso Leonardo da Vinci.
Frauen gibt es im Lexikon der Faulpelze nur zwei: Agatha Christi und Alexandra David-Néel, Schriftstellerin, Sängerin, orientalische Philosophin, feministische Journalistin, buddhistische Gelehrte und definitiv eine der aufregendsten Figuren im Buch. Sie war die erste Europäerin, welche ihren Fuß in die tibetische Hauptstadt setzte, und machte den Buddhismus durch ihre Reiseberichte in Europa populär. Aber 29 Männer und nur zwei Frauen, das verlangt nach einer Erklärung. Da fragt man sich, ob Frauen das zur Genialität gehörende Maß an Faulheit und Renitenz fehlt, ob sie einfach zu wohlerzogen und angepasst sind, um erfolgreich zu sein. Das empirisch zu erforschen, wäre für die Gender-Studies doch mal eine interessante Aufgabe. ANGELIKA OHLAND
Jean-Bernard Pouy, Serge Bloch, Anne Blanchard: „Lexikon der Faulpelze. Von Albert Einstein bis Leonardo da Vinci“. Aus dem Französischen von Anne Braun. Fischer Schatzinsel, Frankfurt am Main 2008. 243 Seiten, 19,90 Euro