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Archiv-Artikel

Dem Unbesiegbaren ganz nah

Der Texaner Lance Armstrong gewinnt zum fünften Mal in Serie die Tour de France, aber auch so knapp wie nie zuvor.Dem erneut Zweitplatzierten Jan Ullrich gibt genau das die Ahnung, ebenfalls noch einen Tour-Sieg in sich zu tragen

aus Paris SEBASTIAN MOLL

Als Jan Ullrich am Samstagabend gegen halb acht in die Halle des Hotels Oceania am Flughafen Nantes-Atlantique trat, war der 29-Jährige mit sich im Reinen. Keine Spur von Niedergeschlagenheit oder auch nur Ärger über seinen Sturz beim entscheidenden Zeitfahren, der ihm die letzte Hoffnung auf den Tour-Sieg gekostet hatte. Jene Hoffnung, die er mit so viel Leidenschaft bis zum vorletzten Tag des Dreiwochen-Rennens durch Frankreich aufrechterhalten hatte. Nein, Jan Ullrich wirkte eher wie einer, der die Tour als Zuschauer verfolgt hat und der, wie viele Hunderttausende in Deutschland oder wo auch immer, gebannt das Duell zwischen sich und Lance Armstrong verfolgt hat: „Das war Radsport pur“, sagte er zu dem, was er und der Mann aus Texas in den vergangenen Tagen und Wochen der Welt geboten hatten. Und: „Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe jeden Tag gekämpft.“

Sein Missgeschick vom Nachmittag, als er mit hohem Risiko bei nasser Straße über den Zeitfahr-Parcours geschossen war und ihm bei Tempo 50 in einem Kreisverkehr das Hinterrad ausbrach, nahm Ullrich mit fast philosophischer Gelassenheit: „Das, was ich in der ersten Woche an Glück hatte, hatte ich heute an Pech. So ist Radsport, das gehört dazu.“ Ullrich hatte den zweiten Etappensieg im zweiten Zeitfahren unbedingt gewollt, vielleicht mehr. Welches Risiko er bei dem Unwetter einging, das wusste er.

Doch schon zweieinhalb Stunden nach dem Malheur sah Ullrich weiter zurück als bis in jene Kurve irgendwo kurz vor Nantes. Bis zum Beginn der Tour – und weiter. „Ich war sehr tief gefallen, ich komme von ganz unten, das darf ich nicht vergessen“, hatte er sich vor der Tour gelobt – daran hielt er fest. Deshalb fand er auch, dass der Tour-Verlauf für ihn ein „Riesenerfolg“ sei. Dass er bis zum letzten Tag um das Gelbe Trikot gekämpf hatte, so dicht – nämlich 76 Sekunden – an seinem zweiten Toursieg war, fand er „einfach Wahnsinn“. Sicher, er hatte sich so gewissenhaft vorbereitet wie nie und nach Zeugnis aller in seiner näheren Umgebung auch nie an sich gezweifelt. Doch die Gewissheit, dass er noch einen Tour-Sieg in sich hat, die hat er erst während dieser Tour wieder gewonnen: „Nächtes Jahr muss Lance sich warm anziehen. Da gebe ich 100 Prozent. Und da bin ich mit einem zweiten Platz bestimmt nicht mehr zufrieden.“

Bis vor drei Wochen war Ullrichs Antrieb die „Rückkehr in die Weltspitze“. Jetzt ist es, den Fünffachsieger zu schlagen, den Unbesiegbaren zu besiegen: „Lance ist das Maß der Dinge. Er ist derjenige, der uns alle motiviert“, sagt Ullrich. Doch niemand ist Armstrong jemals so nahe gekommen wie Ullrich in diesem Jahr. Das hat seinen Appetit angeregt: „Jetzt bin ich heiß, jetzt will ich es wissen.“ Wenn einer den Perfektionisten aus Texas überwinden kann, dann Ullrich – das weiß er. In diesem Jahr hat er schon einmal Schwachstellen aufgedeckt.

Armstrong hat das nicht geschmeckt. „Ich bin jetzt zum dritten Mal gegen Jan die Tour gefahren“, sagte er. „Aber dieses Jahr war das erste Mal, dass er uns halbe Nächte lang wach gehalten hat. Er hat uns wirklich Sorgen gemacht.“ Von Anfang an hatte Armstrong gesagt, dass Ullrich sein härtester Gegner sein würde. Doch dass Ullrich gleich so hartnäckig sein würde, hatte niemand erwartet – nicht die Experten, nicht die Fans, nicht Ullrich und auch Armstrong nicht. Jetzt, da alles vorbei ist, findet Armstrong sogar, dass ihm die Erfahrung, gefordert zu werden, gut getan hat: „Wenn man immer mit fünf Minuten Vorsprung gewinnt, fängt man an, nachlässig zu werden. Jetzt habe ich erlebt, dass meine Gegner echt sind, dass ich sie ernst nehmen muss. Und ich verspreche, dass ich im nächsten Jahr nicht mehr so verwundbar sein werde.“

Armstrong motiviert Ullrich – und umgekehrt. „Es gibt keinen Fahrer, der mich so antreibt wie Jan“, gesteht der Texaner. „Ich kann das kaum erklären, aber der Kerl ist mir sympathisch, vielleicht ist es deshalb. Ich halte ihn für einen großen Champion.“ Ähnlich hochachtungsvoll spricht Ullrich von seinem Rivalen: „Lance ist der gößte Radfahrer, den es im Moment gibt. Ich habe unheimlichen Respekt davor, was er geleistet hat. Ich weiß, wie schwer es ist, eine Tour zu gewinnen. Und ich weiß, dass es noch viel schwerer ist, einen Tour-Sieg zu wiederholen. So wie er sich auf das Radfahren konzentriert, das ist einmalig.“

Ullrich ist davon beeindruckt. Und er möchte es in Zukunft Armstrong gleich tun. „Bevor Lance zu US Postal kam, war das eine drittklassige Mannschaft. Jetzt ist es das beste Team der Welt.“ So schwebt das auch Ullrich vor, auch wenn sein Team Bianchi schon jetzt alles andere ist als dritte Klasse ist. Dennoch: Ullrich sieht sich künftig in der Rolle des charismatischen Anführers, der Spitzenleute auf sich einschwört und sie dazu motiviert, ihr ganzes Können in seinen Dienst zu stellen. Der neue Ullrich will nicht nur Radfahrer sein, sondern auch Leader, Gestalter, Wegweiser, Vorbild und Bezugsperson. Die Tour 2003 war ein guter Anfang.