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Archiv-Artikel

Mit List und Tücke

Florian Mayer steht heute im Viertelfinale von Wimbledon. Nicht nur sein Gegner Sébastien Grosjean ist davon überrascht. Derweil sagt Boris Becker: „Ähhm, er hat keine Angst vor dem Gewinnen“

AUS WIMBLEDON DORIS HENKEL

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die einem zeigen, was sich verändert. Begleitet und geleitet vom Moderator des All England Clubs nahm Florian Mayer am Montag zum ersten Mal auf dem Podium des Interviewraums Nummer eins Platz. Der Moderator bat mit Rücksicht auf den leicht nervösen Kandidaten an seiner Seite, man möge die Fragen in Englisch bitte langsam und verständlich stellen, doch dieser Teil war schnell vorbei. Kurze Beschreibung der eigenen Stärken, ein Wort zum nächsten Gegner, Sébastien Grosjean, und danach sprach man wieder Deutsch. Puh, geschafft. Alles gut gegangen bei der internationalen Premiere. Am Tag stand zum ersten Mal eine kleine Geschichte über Mayer in der Times. Gehalten im beliebten, leicht überheblichem Ton, aber mit der nicht ganz unstimmigen Beschreibung, dieser junge Deutsche bringe zwar die rücksichtslose Effizienz eines Boris Becker nicht nach Wimbledon zurück, aber er sehe auf dem Platz nicht so aus, als sei sein Spiel „in Weltschmerz mariniert“.

Nee, das ganz sicher nicht. Als lieben, netten, etwas zurückhaltenden Jungen hat Trainer Ulf Fischer seinen Schützling mal beschrieben, aber lieb, nett und zurückhaltend ist der nur außerhalb der Linien. Auf dem Platz geht er mit List und Tücke ans Werk, liebt seine spektakuläre eingesprungene Rückhand und den nervtötenden Stopp, hat ein gutes Gespür für die Notwendigkeiten des Augenblicks und profitiert von der unerschütterlichen Ruhe des Stoikers, der er ist. „Und“, sagt Boris Becker, „er hat keine Angst vor dem Gewinnen.“ Wo genau der Punkt war, an dem der junge Mayer begriffen hat, dass er in der Welt des Profitennis ein Rolle spielen kann? Ein erstes, leichtes Knack war wohl vor ziemlich genau einem Jahr zu hören, als er in St. Petersburg ein Challenger-Turnier gewann. „Siehst du, dass es geht?“, fragte Ulf Fischer damals, und die gleiche Frage stellte er wieder, als sich Mayer zu Beginn des Jahres für die Australian Open qualifizierte. Für das erste große Turnier seines Lebens, in dem er das erste Grand-Slam-Spiel seines Lebens gewann und damit auch deshalb auffiel, weil er der Einzige der deutschen Spieler war, der damit die zweite Runde erreichte. In Melbourne sagte Mayer noch: „Wenn ich die Top 100 nicht schaffe, werde ich trotzdem weiterspielen“, in Paris meinte er nach dem Sieg in Runde eins, Ende des Jahres wolle er zu den besten 50 gehören, und nun wird es Zeit, sich neue Ziele zu setzen: Die Top 50 hat er schon erreicht.

Auch Ulf Fischer, 38, staunt. Nicht so sehr wegen der Tatsache an sich als vielmehr wegen des Tempos, mit dem der Junge quasi im ersten Jahr auf der Tour aus dem Nichts im Viertelfinale der All England Championships gelandet ist. „Man muss viel mit Florian reden“, sagt er, „aber er hört sich alles an und versucht das umzusetzen.“ Bis zum Beginn dieses Jahres hat Fischer in seiner Eigenschaft als Nachwuchscoach des Deutschen Tennis-Bundes (DTB) mit Mayer gearbeitet, doch weil zum einen die Mittel für die Arbeit gekürzt wurden und er zum anderen überzeugt ist vom Talent seines Schützlings, hat er seinen Job beim DTB aufgegeben und ist seit Anfang des Jahres nur noch für Mayer zuständig.

Für Mayer ist fast alles neu dieser Tage im Wunderland Wimbledon, Fischer dagegen profitiert von Erfahrungen. Er war Hendrik Dreekmanns Coach, als der 1994 aus dem Nichts das Viertelfinale der French Open in Paris erreichte, und er war Alexander Radulescus Coach, als der 96 in Wimbledon das gleiche Kunststück schaffte. Für Fischer in beiden Fällen ein kaum zu ertragendes Nervenspiel; Dreekmann vergab sechs Matchbälle seinerzeit, Radulescu immerhin einen gegen den späteren Finalisten MaliVai Washington.

Ist es denkbar, dass Florian Mayer, der unerschrockene fränkische Jüngling aus Bayreuth, tatsächlich gegen Sébastien Grosjean, die Nummer 13 der Welt, bis zum Matchball kommt – und womöglich sogar darüber hinaus? Der Franzose liebt kein Spiel so sehr wie das auf Rasen, weil es ihm lange Ballwechsel erspart, seine Lust zum trickreichen Spiel erfüllt und seine Fähigkeiten zur Improvisation zum Tragen bringt. Und er ist auch deshalb Favorit, weil er vor einem Jahr in Wimbledon nach einem Sieg gegen Tim Henman im Halbfinale stand – aber unschlagbar ist er nicht. Ulf Fischer glaubt, viel werde davon abhängen, wie sein Schützling mit dem Ambiente einer größeren Bühne zurechtkommen werde; Florian Mayer sagt, erst mal sehen, wie er in der Nacht davor schlafen werde, und Sébastien Grosjean verrät, er habe Mayer noch nie gesehen. Dem Manne kann geholfen werden.