: Schneller Schuldspruch in der Nacht
Weil das Publikum wegblieb, wurde Frank Castorf am Montag als künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele entlassen
Der Vorwurf riecht nach Kolonialismus. „Ein Konzept, die Ruhrfestspiele Recklinghausen zur Westfiliale der Volksbühne Berlin zu machen, reicht nicht aus.“ Mit solchen Worten erklärten Ingrid Sehrbrock, Sprecherin des DGB, und Wolfgang Pantförder, Bürgermeister von Recklinghausen, ihren Entschluss in der Nacht zuvor, Frank Castorf als künstlerischen Leiter der Ruhrfestspiele zu entlassen. Gerhard Mortier, auf dessen Vorschlag Castorf gerufen worden war, teilte dem Aufsichtsrat daraufhin seinen Rücktritt als Intendant der RuhrTriennale mit.
Erschüttert zeigte sich der Aufsichtsrat vor allem von den rückläufigen Besucherzahlen, die nun ordentlich aufgeschlüsselt vorliegen: zwei Drittel weniger im Freiverkauf, 65 % weniger bei den ermäßigten Karten für Gewerkschaftsmitglieder, 20 % selbst bei den ermäßigten Karten für Schüler und Studenten. Das ist nicht nur erschreckend, sondern hinterlässt den Ruhrfestspielen auch ein handfestes finanzielles Problem. Mindereinnahmen und Mehrausgaben summieren sich auf 700.000 Euro, die den eh schon abgesenkten Etat für nächstes Jahr belasten.
Die Sorgen des Aufsichtsrats waren also berechtigt, die Schuld allein bei Frank Castorf als Intendanten und Geschäftsführer zu suchen allerdings ist zweifelhaft. Mit dem Motto „No Fear“ hatte Castorf die Festspiele überschrieben – ein aufmunternder Zuruf in Zeiten des ökonomischen Niedergangs, der auch sagen wollte: Nicht das Geld allein entscheidet über unser Glück. Das zog sich auch als roter Faden durch die Inszenierungen, die in Berlin und teils auch in Hannover übrigens kurze Zeit später mit Erfolg liefen. Natürlich lässt sich jetzt darüber spekulieren, ob die Trash-Ästhetik, die das Abseitige so gern feiert, zu offensiv dort war, wo man Bilder von Zentrum und Peripherie eh nicht liebt. Oder ob Castorf jetzt nicht dafür büßen muss, aus der Hauptstadt zu kommen, die noch immer als gut subventioniert gilt.
Vorurteile gab es sicher auf beiden Seiten. Gegen die erste Kritik verteidigte sich Castorf mit dem Recht des Künstlers auf Radikalität und Extremismus. Das war weder eine kluge Strategie, noch ist es angebracht, das Publikum als rückständig zu beschimpfen. Erst recht nicht für jemanden, der sich sonst so viel auf sein Bündnis mit den Verlierern sozialer und ökonomischer Umstrukturierungsprozesse zugute hält.
Sehr schnell aber erklärten die Stadt Recklinghausen und der DGB als Gesellschafter der Ruhrfestspiele das „Experiment der Neuausrichtung mit Frank Castorf als Festivalleiter für gescheitert“. Sein Wort, für den Umbau des Publikums und Neugewinne ein paar Jahre zu brauchen, nahmen sie als ein Eingeständnis, fehl am Platz zu sein. Ein möglicher Nachfolger, Jürgen Flimm, designierter Leiter der RuhrTriennale, hat übrigens schon abgelehnt, auch Festivalintendant zu werden: „Ich will mich nicht als Ruinenbaumeister betätigen.“
Der Aufsichtsrat wirft Castorf jetzt vor allem fehlende Vermittlung und fehlendes Marketing vor: keine Veranstaltungen an Schulen oder mit jungen Gewerkschaftern. In der Tat: Sie haben sich einen Regisseur als Intendant und Geschäftsführer geholt, keinen Marketingchef. Fehlende Vermittlung ist ein Vorwurf, der auf viele zurückfallen kann. Nicht zuletzt auf die Gesellschafter der Festspiele selbst, die ihr Bauernopfer so schnell ausgeguckt haben.
Wolfgang Pantförder, Bürgermeister von Recklinghausen, gibt sich bürgernah. „Nicht das Publikum hat etwas falsch gemacht, sondern der Trainer“, findet er zu einem populären Bild. Und dass man Trainer bei Misserfolg, anders als Gewerkschaftsbosse, gleich entlassen muss, weiß ja schließlich jeder.
KATRIN BETTINA MÜLLER