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Archiv-Artikel

Aus der Sprühdose der Pandora

1984 wagte sich ein gewisser „Cheech“ an das erste deutsche S-Bahn-Graffito – er wird nicht geahnt haben, was er da entfesselte. Es folgten 20 Jahre … ja, was? Dreiste Sachbeschädigung? Urbane Kunst? Zum Jubiläum ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte Kultur und Unkultur aus der Dose, die das Aussehen unserer Städte für immer veränderten

VON KLAUS RAAB

Man hätte es sich denken können: Es war ein Grieche, der diesen Mist erfunden hat. Es sind immer die Griechen. Sie erfanden, wie man einen idealen Staat macht, wie man in einer Tonne rumliegt und das Gute, Wahre und Schöne, und zwischendurch gab’s Fischsuppe. Einer von ihnen, Platon, widmete sich schon damals in seinem Höhlengleichnis den seltsamen Zeichen an der Wand. Da es also eine griechische Tradition ist, vor solchen Ideen nur so zu sprühen und damit den Zeitgenossen auf den Zeiger zu gehen, sprühte einige Jahrhunderte später, der Kalender zeigte das Jahr 1971, ein junger Grieche, ein Botenjunge wie Hermes, seinen Namen an New Yorker Wände: „Taki183“.

Die guten alten Griechen wohnten inzwischen zu Teilen in der neuen Welt, und Taki wollte nicht länger nur Grau an der Wand vor sich sehen, so grau wie die Schatten, die Platon in seinem Höhlengleichnis beschreibt. Die New York Times wurde aufmerksam, es erschien ein Artikel, und prompt gab es Nachahmer, die zahlreich waren und kreativ und die Takis spartanischem, also griechischem Stil viele Ideen beimischten. Ein Kollege namens PhaseII kreierte den Bubble-Style, Priest167 und Pistol1 die ersten 3-D-Effekte. Taki hatte das Graffito erfunden, jedenfalls das im HipHop-Stil. Visuelle Reviermarkierungen von konkurrierenden Gangs hatte es schon vorher gegeben, aber erst von da an wurden pieces gebombt, tags gesprayt und codes designt, solange das Taschengeld für Spraydosen reichte.

33 Jahre später lässt sich vorläufig festhalten: Takis Idee ging um die Welt und hat sie verändert oder doch zumindest den Haushalt der Deutschen Bahn. Deren Budget zur Graffitibekämpfung ist heute längst im achtstelligen Bereich angekommen. Denn noch ein wenig beliebter als Wände waren bald Züge. So konnte die ganze Stadt die Werke sehen, sie wurden all city, was ein wichtiges Kriterium im Wettstreit der Sprayer um das größte Publikum ist; Graffiti wurden zu einer alternativen mobilen Kunstausstellung, die den Fehler hatte, nicht bei der Stadtverwaltung angemeldet zu sein.

Nun hat es eine Weile gedauert, bis das Graffito aus Übersee zu Starnberger und Wannsee und damit in den Geschäftsbereich der Deutschen Bahn vorgedrungen war. Aber so lange dann auch wieder nicht: Das deutsche S-Bahn-Graffito wird in diesem Sommer 20 Jahre alt! Herzlichen Glückwunsch hierzu. Und herzliches Beileid an die Bahn.

Nach 20 Jahren des Ausgeschmiertwerdens ist die Polizei heute längst gewappnet, hat Sonderkommissionen eingesetzt und sich ein Bild des Sprayers an sich gemacht: „Bei der illegalen Verbreitung dieser persönlichen Schriftzüge handelt es sich in der Regel um eine Jugenderscheinung. Die Sprayer sind in der Regel zwischen 14 und 20 Jahre alt. Zu den Hobbys dieser Jugendlichen gehört häufig auch das Skateboardfahren. Bekleidet sind viele dieser Sprayer mit der heute modischen ‚Schlabberbekleidung‘ (überweite Hosen und Sweatshirts, Kapuzenpullover, Sportschuhe, Baseballkappen, Strickmützen). Daneben führen viele dieser Jugendlichen Rucksäcke mit.“

Es begann in Deutschland im Jahr 1984, als in München ein junger Mann, der sich das Pseudonym Cheech zugelegt hatte, als Erster eine deutsche S-Bahn mit seinem tag versah, so heißt es in der szeneinternen Geschichtsschreibung. Die Münchner Polizei nennt als ersten gemeldeten Fall einen Zug der ebenfalls in München verkehrenden Linie S4 nach Geltendorf, der ein Jahr später einem 56 Meter langen piece, dem bis dahin längsten, als Träger zu dienen die Ehre hatte. Den S-Bahnern, die noch heute auf „ein einheitliches Erscheinungsbild“ der Züge Wert legen, war die Entfernung des Bilds 6.000 Mark wert.

Dies ist ein typischer Konflikt zwischen nicht subventionierten Graffitikünstlern, also Schmierfinken, und Eigentümern von Verputztem, Verglastem und Verkehrsmitteln, also Putzmittelspießern. Schon die Terminologie zur Bezeichnung der jeweils anderen zeigt, dass miteinander kein idealer Staat zu machen ist. Graffito ist als Teil von HipHop entstanden, und auch wenn die treffende Bezeichnung in der urbanen Postmoderne, in der längst Mainstream sein kann, was sich selbst als Underground definiert, schwierig bestimmbar ist: Der Teil von HipHop, der noch nicht in den MTV-Mainstream abgedriftet ist, ist Gegenkultur geblieben. HipHop hat den Anspruch, real zu sein, die Lebenssituation seiner Mitglieder zu thematisieren, und die begreifen sich als Angehörige von wie auch immer gearteten Minderheiten. Jedenfalls versteht sie die Mehrheit nicht.

Während Rap als Teil des HipHop also per Musiksender in die Wohnzimmer vorgedrungen ist, hat Graffito eine annähernd so subversive Wirkung wie vor 20 Jahren, auch wenn Stadtverwaltungen heute Mauern – „walls of fame“ – abstellen, die legal besprüht werden können. Die Deutsche Bahn hat verstanden, dass sie ihr Problem der bemalten Züge nicht dadurch lösen kann, dass sie selbst Sprayer engagiert. Das wäre nicht HipHop, aber um den geht es. Graffito ist Lebensgefühl und hat, neben künstlerischem Ausdruck, ein Motiv gerade im bestehenden Spannungsverhältnis von Szeneruhm und Bullenstress, Kletterstunts und Hausfriedensbruch. Die Umstände, unter denen die Writer schreiben, sind genauso wichtig wie das Sprühen selbst: Thrillen muss es. Nach einer Zeit, in der Sozialpädagogen das Graffito als Mittel zur Kreativitätserziehung entdeckten, auch die Leinwand als Sprayfläche akzeptiert wurde und die pieces Einzug in Museen hielten, meldete sich daher die den Ursprüngen verwurzelte Writerfraktion zu Wort und forderte, zum Trainbombing zurückzukehren, wie das Writing auf Zügen genannt wird: seit dem ersten deutschen S-Bahn-Sprayer Cheech zum Maß aller Dinge also. Denn erst der Zug macht, wenn er als Sprühfläche dient, Graffito zu dem, was es auch sein will – kreativ, eine großflächig sichtbare Mutprobe, illegal, anarchisch, ein visuelles Zeichen der jugendlichen Fähigkeit zur Rebellion.

Die letzte Jahresbilanz des Deutsche-Bahn-Konzerns zeigt daher unter dem Stichwort Graffitischäden 50 Millionen Euro auf der Löhnenseite. Das entspricht etwa der Summe, die der Bahn entgeht, wenn Deutschlands ganze Sprayerposse ein Jahr durch Deutschland schwarzfährt, die dabei an Mobiliar und Außenverkleidung entstehenden Schäden nicht eingerechnet. Jedenfalls kein Pappenstiel. Die einzige Möglichkeit, Graffiti zu verhindern, wäre, sie in den Mainstream aufzunehmen und zu legalisieren, um ihnen den Reiz des Illegalen zu nehmen. So weit, dass selbst Polizeiautos als einer der schwierigsten, aber den größten Ruhm versprechenden Sprühuntergründe für Sprayer einfach so hingenommen werden, wird es aber kaum kommen.

Während die Kunstgeschichte, zum Beispiel deren Vertreter Henk Pijnenburg, also Graffiti dafür feiert, dass nie zuvor so viele junge Menschen hinter einer Kunstrichtung standen, die sie so „aufrichtig, kühn und zeitgemäß“ erfahren, oder Michel Thévoz, der sich als Direktor des „Anti-Museums“ in Lausanne einst fragte, wo der Vandalismus wirklich liege, „in den Graffiti oder im Beton, der ihnen als Träger dient“, fordert die Opposition im Bundestag, Graffiti als „Verunstaltung“ zu definieren, so eindeutiger dem Tatbestand der Sachbeschädigung unterlägig und leichter als Straftat identifizierbar zu machen. Gleichgesetzt werden dabei verkratzte Zugscheiben, „Fuck you“-Schriftzüge und die Writings, die durchaus künstlerisch verstanden werden können. Nur die Partei, die dieselbe Farbe hat wie die vorwiegend grünen pieces des Berliner Sprayers Quarx, will Sprayer entkriminalisieren und lehnt ein verschärftes Strafmaß als kontraproduktiv ab.

Sprayer Fu aus Düsseldorf sieht das ähnlich: „Mit so einer geplanten Gesetzesänderung wird vorgegaukelt, dass sich die illegale Graffiti-Szene unter Kontrolle bringen ließe. Das stimmt aber nicht.“ In und um München stiegen die Fälle „in den Jahren 1998 bis 2002 um 36,5 Prozent auf 12.347 Taten trotz des immer größer werdenden repressiven Drucks seitens der Strafverfolgungsbehörden“. Oder wegen. Heute gibt es in München ein vorgerichtliches Verfahren, „bei dem der Schädiger die Möglichkeit der Abarbeitung seiner Sachschäden erhält“. Entkriminalisierung also.

Quarx sagt, das Sprühen sei „lebendige Kunst“, und wer graue Wände schöner finde, dem könne er kein Mitspracherecht über sein Tun einräumen. „Graffiti ist Leben, Mann. Nicht dieser Einheitsscheiß.“ Graffito ist ein quasi postmodernes Höhlengleichnis, in dem die ganze Wahrheit sich an der Wand ausdrückt, an die bei Platon nur die Schatten der Dinge geworfen werden. Die alten Griechen also wieder mit ihren Ideen vom Guten, Wahren, Schönen und Idealstaat. Der ideale Staat? „Kein Staat“, sagt Quarx. Zum 20. Geburtstag fordern wir, als Kompromiss und ganz im Sinn der Grünen, die einzig wahre Für-und-Gegen-Maßnahme für und gegen Graffiti: hohes Spraydosenpfand.