berliner szenen Flattergeister und Belege

Wortschätzlis fürs Exil

Zusammen mit den Büchern meiner LieblingsschriftstellerInnen und meiner „Time-Life“-Kochbuchsammlung bewahre ich sie auf, meine „Wortschätzli“. Acht DIN-A5-Heftchen sind es, alle mit dem deutsch-französischen Lexikon meiner berlinerischen Biografie proppenvoll gefüllt. Über den Titel war ich ganz verzückt, als ich hier vor dreizehn Jahren aus Genf ankam. Dort und auch in Zürich hatte ich viele Kontakte mit schweizerdeutsch sprechenden Menschen.

Im „Wortschätzli“-Heft Nr. IX schreibe ich seit ewigen Zeiten. Es ist ein grünes „Polo 6“-Heft, das inzwischen vergilbt ist, nach Tabak stinkt und zur „Serie vom Fachhandel“ gehört. Es ist bald voll, hat nur noch Platz für zwei oder drei Wörter und steht im Büchermöbel meines Arbeitszimmers irgendwo neben dem „Webster’s New Encyclopedic Dictionnary“, dem Stadtplan von Berlin und dem „bon usage“ von Grevisse, wie die penible Bibel der französischen Rechtschreibung heißt. Seit einem Gespräch über Erinnerung mit einem enthusiastischen deutschsprachigen Freund letzten Winter haben sich sogar Johnsons „Jahrestage“ ganz demonstrativ und einladend zu ihm gesellt.

Dieser Tage habe ich aber das mulmige Gefühl, dass ich vielleicht gar kein neues „Wortschätzli“ mehr anlegen werde. Ich kann mich in letzter Zeit immer weniger daran erinnern, warum ich mir bestimmte Wörter aneignen wollte. Wer oder was war noch einmal „widerspenstig“? Gab es dafür „Belege“? Hatte er „ein besorgtes Gesicht“ oder war nur ich selbst so „bedenklich“? Und wozu „die Milz“? Was hatte ich mit der „Erweiterung des Verkehrsnetzes“ zu tun? Wie kam ich bloß auf „Arglosigkeit“? Und überhaupt, war ich „auf der richtigen Fährte“ oder nur ein „Flattergeist“? YVES ROSSET