: Strenge Lebensschule
Nostalgiefrei: Claudia Ruschs DDR-Erinnerungsbuch „Meine freie deutsche Jugend“
Nein, nicht Joker oder Schlager aß Claudia Rusch als Kind am liebsten, sondern den West-Schokoriegel Raider, den ihr die Mutter nur selten aus dem Intershop mitbringen konnte. Ihr größter Wunsch: ein Zimmer voller Raider. Ostsüßigkeiten dagegen mochte sie nicht, „und ich esse sie auch heute nicht“, da diese, der Ostalgie sei Dank, in so manchem Supermarkt wieder angeboten werden. Man merkt allein daran: Claudia Rusch steht in ihrem DDR-Jugenderinnerungsbuch „Meine freie deutsche Jugend“ nicht der Sinn danach, sentimental zu werden und die DDR zu verklären.
Davor dürfte sie allein ihr familiärer Hintergrund bewahrt haben: Ihre Mutter gehörte zum Umfeld der DDR-Bürgerrechtsbewegung und war eng befreundet mit Katja und Robert Havemann. Als Mutter und Tochter in die Nachbarschaft der Havemanns ziehen, wird die Bespitzelung durch die Stasi zu einem festen Bestandteil von Claudias Leben. Sie, die beim Mauerfall 18 Jahre alt war, weiß genau, „in welchem Land ich groß geworden bin“. Zumal sich die Unangepasstheit ihrer Mutter und des späteren Stiefvaters auch auf die Tochter überträgt und sie schon mal mit einem „Schwerter zu Pflugscharen“-Aufnäher in die Schule geschickt wird.
Rusch beschreibt sich als zu einem „exklusiven Club“ gehörig, fühlt sich auf bestimmte Art „privilegiert“, gesteht aber, sich manches Mal gewünscht zu haben, angepasster DDR-Durchschnitt zu sein. Kein Zonenkind, sondern eine Außenseiterin von früh an, die in ihren Erinnerungen nicht „ich“ und „wir“ verwechselt oder extra ihr Anderssein im Vergleich zur Generation Golf betont, wie etwa Jana Hensel und Jana Simon.
Die DDR ist für Rusch kein romantischer Kindheitsort, sondern strenge Lebensschule. Latent sind die Bedrohungen, etwa das Abitur nicht machen zu können, groß die Sehnsüchte, wie das Zimmer voller Raider oder Reisen in andere Länder, die sie später viel unternimmt, die DDR zwar im Bewusstsein, aber immer gegen sie ankämpfend.
Ruschs Erinnerungen wirken privat und offenherzig, bleiben aber oft auch undurchschaubar und lose. Ihr Buch zerfällt in ernsthafte Anekdoten und mitunter kitschige Pointen – kein Wunder bei 27 kurzen Kapiteln, in denen schnell auch mal die Leben des verstorbenen Großvaters und des Stiefvaters erzählt werden. Gern aber hätte man über diese Personen mehr erfahren, auch über die Mutter, die eine große Rolle spielt, aber nur schemenhaft über dem Leben von Rusch schwebt. Die Schwierigkeiten und so manche Tragik lassen sich so eher nur erahnen als mitfühlen. Da rätseln zum Beispiel Mutter und Tochter, ob die Großmutter sie als „IM Buche“ jahrelang bespitzelt habe. Als sich herausstellt, dass es eine Freundin der Mutter war, und der Großmutter das mitgeteilt wird, holt diese bloß die Schnapsgläser und sagt: „Darauf, dass dieser Kelch an uns vorübergegangen ist.“
Man wundert sich, wie schnell das geht, ja wie sich hier vieles fügt, wie auch den schlimmsten Zumutungen noch Erkenntnisse abgewonnen werden. Fragen bleiben keine offen. Das mag Selbstschutz sein, beruht vielleicht auf einer starken Persönlichkeit. Logisch ist es da, dass Rusch auch ihre Sehnsuchtsstadt Paris, zu DDR-Zeiten eine reine Projektion, am Ende sogar ohne Stadtplan geradezu bezwingt. Logisch, dass auch das mit dem Zimmer voller Raider noch klappt. Das bekommt sie eines Tages von einem Freund zum Abschied geschenkt, in Form eines bemalten und mit Raidern gefüllten Kartons, „eines der schönsten Geschenke meines Lebens“. GERRIT BARTELS
Claudia Rusch: „Meine freie deutsche Jugend“, Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2003, 157 S., 14,90 €