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Archiv-Artikel

Die Liebe zur Arbeit

Wer zeigt Mut in diesen Zeiten? Nicht nur Männer lieben ihren Beruf – und wollen nicht in Teilzeit gehen. Doch um Vollbeschäftigung zu erreichen, ist kurze Vollzeit für alle nötig

Vollbeschäftigung muss heute als politisches Ziel anders definiert werden als früher

Die Stimmung in Deutschland ist schlecht, kaum jemand will etwas riskieren. Den sicheren Job aufgeben, bloß weil man morgens mal andere Gesichter sehen will? Sich ein Sabbatjahr gönnen, wie es vor ein paar Jahren sogar in den Wirtschaftsmagazinen euphorisch empfohlen wurde? Danach ist man doch weg vom Fenster! Elternzeit nehmen, weil jemand das Aufwachsen der Kinder nicht verpassen will? Paare oder Familien können doch froh sein, wenn überhaupt einer Geld verdient! Weniger arbeiten, auch ohne Nachwuchssorgen, einfach nur, um die Muße zu genießen, mehr Zeit für private Interessen zu haben? Luxusdebatten für die Bohemiens der Erbengeneration!

Wirtschaftsflaute und fantasielose Politik lassen derzeit eine Verzagtheit aufkommen, die keinen Platz lässt für Lebenskonzepte und Geschlechtsrollenentwürfe jenseits des Mainstreams. Schluss mit lustig, heißt es nach dem tiefen Fall der New Economy, die neben der Hoffnung, schnell reich zu werden, immer auch das Versprechen enthielt, anders zu arbeiten und zu leben.

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern verändert sich nur noch millimeterweise. Frauenförderung, Gender Mainstreaming, der familienfreundliche Betrieb: Darüber wird zwar diskutiert, aber selten geht es ans Eingemachte. Der männliche Habitus des „Hauptsache Arbeit“ (den sich selbstverständlich auch Frauen aneignen können) bleibt unhinterfragt.

Trotz besserer Gesetze nutzen kaum mehr Männer Teilzeit- oder Elternzeitangebote. Das liegt nicht nur daran, dass sie in schwierigen Zeiten alles tun müssen, um ihre Frauen und Kinder durchzubringen. Viel wichtiger ist, dass sie ihre (Erwerbs-)Arbeit lieben. Ein toller Job kann eine mächtige Sogwirkung entfalten, und in ehrlichen Momenten geben manche auch zu, dass sie ihr Unternehmen viel spannender finden als ihre Familie. Von der „Erotisierung des Arbeitsplatzes“ spricht eine neue Studie aus Österreich: Wiener Wissenschaftler haben untersucht, wie Menschen ihren Beruf mit Gefühlen besetzen, während sie gleichzeitig ihre Familie versachlichen und als reinen Service- und Kinderaufzuchtsbetrieb betrachten. Angesichts der Glücksgefühle bei der Arbeit erscheint das Privatleben vergleichsweise schal. Erfüllung stellt sich vorrangig bei der erfolgreichen Bewältigung beruflicher Herausforderungen ein.

Nach wie vor lässt die existierende Arbeitsgesellschaft nur die Wahl zwischen allem oder nichts, zwischen Karriere oder erfülltem Privatleben. Millionen Erwerbslose finden nichts schlimmer als die ihnen unbegrenzt zur Verfügung stehende freie Zeit. Parallel klagen die Jobbesitzer über Zeitnot und Stress ohne Ende. Die immensen Produktivitätsfortschritte der letzten Jahrzehnte drücken sich in überflüssigen Arbeitskräften aus, nicht in einem Gewinn an Wohlstand und Zeit für die Arbeitnehmer. Aber haben die Gewerkschaften nicht flächendeckende Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt? Gehört Papi nicht samstags längst seinen Kindern – wenn er nicht gerade das Auto wäscht oder die Bundesliga verfolgt?

Betrachtet man statt der persönlichen Arbeitszeit die von Paaren und Familien, kann von Entlastung keine Rede sein. Der Bremer Hochschullehrer Helmut Spitzley hat das auf einfache Weise vorgerechnet. Wenn 1960 der Mann beispielsweise 44 Stunden pro Woche erwerbstätig war und die Frau ihre Leistungen auf Haushalt und Kinder konzentrierte, betrug die Erwerbstätigkeit von Mann und Frau zusammengenommen: 44 Wochenstunden. Eine Generation später sind die fürsorglichen Gattinnen von einst ebenfalls berufstätig, überwiegend in Teilzeit. Die Arbeitszeit eines durchschnittlichen Paares betrage nun 38 plus 20 gleich 58 Wochenstunden, addiert Spitzley. Sie liege damit trotz individueller Verkürzung deutlich höher als in der Generation unserer Eltern.

Weil das Ernährer-plus-Hausfrau-Modell nur noch von Minderheiten oder beschränkt auf die Familienphase mit kleinen Kindern praktiziert wird, ist die Nachfrage nach Erwerbsarbeit gestiegen. Die in der Rückschau idealisierte Vollbeschäftigung der Sechzigerjahre war eine Vollbeschäftigung für Männer, die darauf beruhte, dass die Mütter zu Hause blieben. Vollbeschäftigung muss heute als politisches Ziel anders definiert werden. Verweise auf die gute alte Zeit, die absurderweise zur Mehrarbeit auffordern, sind dabei wenig hilfreich: Die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, die Deutschen müssten zwei bis drei Stunden pro Woche länger arbeiten, ist daher genauso unsinnig wie die Anordnung seines nordrhein-westfälischen Kollegen Peer Steinbrück an seine Beamten, sie müssten Überstunden künftig unbezahlt leisten. Solange der männliche Arbeitshabitus kulturell gepflegt, wirtschaftlich gefördert und politisch propagiert wird, ist das Dauerproblem Massenarbeitslosigkeit unlösbar.

Ein neuer Arbeitszeitstandard kann nicht bei 38 oder gar über 40 Stunden liegen, sondern bestenfalls bei 30, eher bei 25 Wochenstunden. Erst wenn in späteren Jahren wegen des demografischen Wandels tatsächlich wieder mehr Erwerbsarbeitsplätze angeboten würden als nachgefragt werden, wäre ein gesellschaftlicher Diskurs darüber sinnvoll, ob die Normalarbeitszeit länger sein könnte oder müsste. Die kurze Vollzeit für alle wäre keine starre Norm, sondern eine Art Durchschnittswert, an dem man sich je nach persönlichen Wünschen, biografischer Situation und wirtschaftlichen Verhältnissen flexibel orientieren kann.

Fantasielose Politik begünstigt eine Verzagtheit, die alternative Lebens-konzepte nicht zulässt

Ein Umdenken bedeutet das auch für die Gewerkschaften, die bisher einförmige Rasenmäherlösungen bevorzugten. Nur unter dem Druck drohender Entlassungen stimmten sie in der Vergangenheit Verkürzungen mit Teillohnausgleich wie der (im Kern immer noch gültigen) 28,8-Stunden-Woche bei VW zu. Die Arbeitnehmerorganisationen haben bei Tarifforderungen immer noch den männlichen Alleinverdiener im Kopf, der ein halbes Dutzend hungrige Mäuler ernähren und deshalb unbedingt einen Familienlohn nach Hause bringen muss. Diesen Lebensentwurf mag es weiterhin geben, aber er kann nicht alleiniger Maßstab der Normalität sein.

Und die Liebe zur Arbeit? Der legendäre Kicker im Wohlfühlraum der New Economy ist längst abgebaut. Es bleibt toll, an seinen beruflichen Aufgaben zu wachsen, aber vielschichtige Erfahrungen von Erfüllung und Glück lassen sich auch außerhalb des Jobs machen. Sicher nicht allein im Umgang mit Windeln und Schnuller, aber in vielen anderen Situationen, in Freizeit oder Ehrenamt, mit und ohne Kinder. Zwischen Arbeit und Liebe bastelt jede(r) an seinem Entwurf des guten Lebens – im begrenzten Rahmen seiner Möglichkeiten und Freiheitsgrade. Wenn wie zurzeit das Gefühl dominiert, privat wie beruflich auf wackligem Grund zu stehen, wird die entspannte Balance schwierig. Eine kreative Arbeitszeitpolitik könnte dazu beitragen, das Gleichgewicht zu verbessern. THOMAS GESTERKAMP