: Die Menschenwürde steht auf dem Spiel
Wie viel ist ein gesunder Mensch wert? Wie eine Homepage aus nervenzerreißenden Fragen der Gentechnologie eine öffentliche Debatte macht. Die Aktion Mensch zeigt im 1.000-Fragen-Projekt, wie die Designmöglichkeiten der Genetik ethische Grundlagen der Gesellschaft infrage stellen können
von THOMAS GITH
Die Diagnose kann Familien völlig verunsichern: Das eigene Kind leidet an Mukoviszidose. Meist verläuft diese derzeit noch nicht heilbare Erbkrankheit tödlich. In neun von zehn Fällen wird die Lunge ihren Dienst versagen. Es bildet sich ein zähflüssiger Schleim, der die Atemwege stark beeinträchtigt. Für die Überlebenden heißt das: permanente medizinische Begleitung. Lindern lässt sich das Leiden nur durch ständiges Abklopfen der Bronchien.
Eltern, deren Kind von Mukoviszidose betroffen ist, sehen sich mit einer Unmenge von Fragen konfrontiert – die weit über mögliche Behandlungsformen hinausgehen. Es geht um die Geburt weiterer Kinder. Die Wahrscheinlichkeit, dass Geschwister ebenfalls von der Krankheit betroffen sind, liegt bei 25 Prozent. Wollen wir noch ein Kind zur Welt bringen, das vielleicht Mukoviszidose hat? Welche seelische Belastung bedeutet das für uns und das Kind? Kann eine Pränataldiagnostik helfen? Warum ist die Präimplantationsdiagnostik, mit der wir einen gesunden Embryo „zeugen“ könnten, nicht zugelassen?
Solche Fragen sind sehr persönlicher Natur. Derzeit aber besteht die Möglichkeit, sie in einem Internetforum öffentlich zu diskutieren. Die Aktion Mensch hat eine Homepage eingerichtet, auf der die praktischen und ethischen Aspekte der Bioethik Thema sind: das 1.000-Fragen-Projekt. Wer möchte, kann sich in dem Forum informieren. Die biologisch-medizinischen Grundlagen der Humangenetik werden online behandelt.
Oder man nimmt am bioethischen Diskurs teil. Wer will, kann in dem Internetforum jene Fragen stellen, die sonst meist nur privat durchlebt werden, weil sie so nervenzerreißend sind. Die Fragen finden Eingang in einen Katalog – den jeder Besucher einsehen kann. Ein Blick verrät, was die Menschen bewegt: Viele fragen nach „Designerbabys“, nach der Stammzellenforschung und den möglichen Folgen der Präimplantationsdiagnostik (siehe Kasten). Schöpfungsvisionen stehen Szenarien des Dammbruchs gegenüber: die beiden Seiten der bioethischen Medaille.
„Die Bioethik geht alle Menschen an“, sagt Christian Mierse, Sprecher der Aktion Mensch, „sie soll daher nicht nur in wissenschaftlichen Zirkeln oder im Bundestag diskutiert werden – sondern eben von und mit allen.“ Die Themen sollen alle Seiten der Genetik beleuchten.
Vor allem die Meinungen des Durchschnittsbürgers und die Betroffenenperspektiven seien wichtig, meint auch Peter Radtke von der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien. „Problematisch ist doch, dass meist Nichtbehinderte die vermeintlich positiven Auswirkungen der Gentechnologie propagieren. Die eigentlichen Adressaten dieser Techniken, Menschen mit schweren Behinderungen und chronisch Kranke, bewerten den möglichen Nutzen dagegen oft viel zurückhaltender.“ Die Mukoviszidoseverbände etwa kritisieren, dass die Erkrankung immer als Paradebeispiel benutzt wird, um die Notwendigkeit der Präimplantationsdiagnostik (PID) zu rechtfertigen.
Die PID ist ein Verfahren, bei dem Humangenetiker eine Zelle von einem im Reagenzglas gezeugten Embryo auf bestimmte genetische Erbkrankheiten hin untersuchen – bevor sie den Embryo in den Uterus einpflanzen. Paare wünschen sich, durch den Einsatz der Präimplantationsdiagnostik eine Erbkrankheit der Nachkommen auszuschließen. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sprechen schwere ethische Bedenken gegen die Zulassung des Verfahrens. Denn die Zerstörung „kranker“ Embryonen ist mit dem Prinzip der Menschenwürde nicht vereinbar. Embryonen sind Menschen im frühesten Stadium, auch sie haben Recht auf den Schutz ihrer Menschenwürde.
Besonders wichtig ist den Initiatoren, dass es in den Foren des 1.000-Fragen-Projekts zur Diskussion kommt. „Da stoßen die unterschiedlichsten Meinungen und Ansichten aufeinander“, sagt Christian Mierse. Fast alle bioethischen Fragen sind kontrovers. Das erklärt sich aus dem ungeheuren Potenzial der Humangenetik. Plötzlich scheint es möglich, bisher als unheilbar geltende Krankheiten zu vermeiden und zu heilen. Aber die dafür notwendige humangenetische Praxis verstößt gegen grundlegende gesellschaftliche Werte wie die Menschenwürde. Wenn es machbar wird, „kranke“ Menschen bereits in ihrem embryonalen Anfangsstadium auszusortieren, so die Befürchtung der Kritiker, dann entsteht ein Dammbruch: Am Ende könnte es dazu kommen, dass die Gesellschaft chronisch kranke Menschen und Menschen mit Behinderung nicht mehr zulässt – und prinzipiell ausgrenzt.
Rücksichtsvoll geht es bei dem Meinungsaustausch nicht immer zu. Manche Kommentare, welche die Besucher auf gestellte Fragen geben, sind beleidigend und entwürdigend. Spricht das dagegen, so komplexe Fragen im Internet öffentlich zu diskutieren? „Das Problem von Internetforen ist, dass sie zur Disziplinlosigkeit verleiten“, sagt Wolfgang van den Daele vom Wissenschaftszentrum Berlin. „Vor dem Bildschirm kommt es leichter zu diffamierenden Äußerungen als im Gespräch von Angesicht zu Angesicht.“
Außerdem geht es um sehr grundsätzliche Konflikte bei den bioethischen Themen. „Schwierig ist ja, dass es sich bei diesen Fragen nicht um Interessenunterschiede, sondern um moralische Konflikte handelt. Interessen lassen sich abgleichen, bei moralischen Konflikten hingegen gibt es nie saubere Lösungen“, stellt der Soziologe van den Daele fest. „Um bei anstehenden Entscheidungen aber möglichst wenig Schmerzen zu verursachen, ist es wichtig, die verschiedenen Positionen zu kennen.“
Eine ethische, also allgemeine, Frage ist die nach der grundsätzlichen Legitimität der PID. Moralisch wird die Frage erst, wenn eine persönliche Betroffenheit hinzukommt. Wenn sich ein Paar zum Beispiel die Frage stellt, ob es einer künstlichen Befruchtung im Reagenzglas zustimmen soll, um den Embryo auf mögliche genetische Erkrankungen zu untersuchen.
Doch Bioethik vor dem Bildschirm muss nicht unpersönlich und diffamierend sein. Wer sich der Auseinandersetzung im Forum stellt, der lernt, andere Perspektiven zu verstehen. Chancen und Risiken der Gentechnologie, die sich nur aus verschiedenen Perspektiven erfassen lassen, sind erst durch deren Diskussion abzuschätzen.
Die gesammelten Fragen zur Bioethik will die Aktion Mensch bald nach Inhalt und Häufigkeit ordnen – und den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft übergeben. So soll ein systematisch aufbereitetes Meinungsspektrum der Öffentlichkeit entstehen. Die wichtigsten Fragen werden zusätzlich auf Plakaten, in Kinospots und Anzeigen veröffentlicht. Als Anregung zum Nachdenken darüber, wie sich die Möglichkeiten der Gentechnologie in Deutschland nutzen lassen. Das Forum soll diese Themen einmal unabhängig vom globalen Forschungs- und Wettbewerbsdruck besprechen.
Denn auch wenn die humangenetische Forschung international ist, so ist doch jede Gesellschaft gefordert, eigene ethische Lösungen für die aufgeworfenen Probleme zu finden, sagt Professor Eckhard Nagel, Mediziner aus Bayreuth und Mitglied des Nationalen Ethikrates. „Die humangenetische Forschung ist zwar international tätig. Das heißt aber nicht, dass alles, was irgendwo gemacht wird, auch überall gemacht werden muss“, meint Nagel. „Ich denke, jede Gesellschaft sollte die eigenen ethischen Grenzen diskutieren, festlegen und in diesem Sinne auch autonom entscheiden.“
Die Debatte um die Bioethik wird anhalten.