Wachstum für die Armen

Die „zehn Gebote“ neoliberaler Globalisierung sind nicht mehr heilig. Aufgeklärte Liberale fordern ein neues IWF-Programm

AUS BERLIN HANNES KOCH

Als die „zehn Gebote der Ausbeutung“ bezeichnen Kritiker den so genannten Konsens von Washington des Internationalen Währungsfonds (IWF). Mehr Markt, weniger Staat – das war in den 90er-Jahren als „Washington Consensus“ das Leitbild der Entwicklungspolitik, die der IWF weltweit durchsetzte. Dieses Programm führte nicht nur zu den oftmals brutalen Folgen der Globalisierung, sondern ließ auch die globalisierungskritische Bewegung entstehen. Mittlerweile sind Wissenschaftler in vielen Ländern dabei, ein menschenfreundlicheres Modell zu entwickeln.

Heute vor 60 Jahren, am 1. Juli 1944, begann an der US-amerikanischen Ostküste die Konferenz von Bretton Woods, die zur Gründung des IWF führte. In den vergangenen 20 Jahren wurde die Organisation so einflussreich wie nie in seiner Geschichte, stand aber auch unter größerem Druck als je zuvor.

Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung ist das politische Programm, dass der Politikberater John Williamson 1989 unter der Marke „Washington Consensus“ zusammenfasste. Seiner Ansicht sollte das Vorgehen der großen internationalen Organisationen IWF, Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) unter folgendem Motto stehen: Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und Sparsamkeit. Wann immer der IWF eine Nationalregierung beriet, verlangte er, die öffentliche Ausgaben für Soziales zu reduzieren, den Markt für ausländische Firmen zu öffnen und staatliche Unternehmen zu verkaufen.

Was dabei herauskam, lässt sich zum Beispiel in Sambia besichtigen. Nachdem die sambische Regierung ab 1992 das staatliche Bergbauunternehmen veräußerte, brach auch die Infrastruktur zusammen, die zuvor von ihm finanziert worden war. Schulen und Krankenhäuser schlossen, teils war die Energieversorgung am Ende. Der Konsens von Washington war dafür verantwortlich, dass die Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika während der 90er-Jahre meist nicht verbesserte, sondern verschlechterte – von Ausnahmen wie China und Indien abgesehen.

Die teils negative Bilanz hat mittlerweile auch die offizielle Wirtschaftswissenschaft zum Nachdenken gebracht. Selbst in eher konservativen Einrichtungen wie dem Kieler Institut für Weltwirtschaft wird an einem „Post-Washington-Consensus“ gearbeitet. In Sinne eines aufgeklärten Liberalismus entwerfen etwa die Wissenschaftler Rainer Schweickert und Rainer Thiele ein neues Entwicklungsmodell, das die Bekämpfung der Armut und das Funktionieren des Staates in den Mittelpunkt stellt. „Armut sollte gemildert und Ungleichheit reduziert werden“, heißt es in ihrem Papier „From Washington to Post-Washington“.

Dies waren blinde Flecken im ursprünglichen Konzept des IWF. Während in den 90er-Jahren die Befreiung der Marktkräfte Wachstum und Wohlstand bringen sollten, betonen die aufgeklärten Liberalen, dass dies ohne ein Minimum an sozialem Ausgleich und staatlicher Regelung gar nicht möglich sei. Nach dem Motto: Auch ausländische Investoren haben ein Interesse daran, dass die Regierung eines afrikanischen Landes die öffentliche Verkehrsinfrastruktur in Ordnung hält. Dafür braucht der Staat Steuereinnahmen, Finanzämter und Beamte – alles Dinge, die der IWF zu gering schätzte.

Auf die Kritik, die auch so renommierte Personen wie der frühere Weltbankdirektor Joseph Stiglitz vorbrachten, reagierte der IWF zunächst nur mit einer etwas freundlicheren Rhetorik. Seit kurzem allerdings gibt es erste Veränderungen in der praktischen Politik. So sollen arme Länder, die einen Teil ihrer Schulden erlassen bekommen wollen, vorher eine Strategie zur Bekämpfung der Armut vorlegen. Bisher haben die Regierungen von Burkina Faso, Uganda, Tansania, Mauretanien und Bolivien entsprechende Pläne ausgearbeitet.

Die Ansätze für eine neue Entwicklungspolitik sind also vorhanden. Ob sie sich durchsetzt, hängt auch davon ab, inwieweit die Antiterrorpolitik der US-Regierung größeren Einfluss auf den Internationalen Währungsfonds gewinnt oder nicht.