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Archiv-Artikel

Niederländische Notschlachtung

Beim Aus im EM-Halbfinale verzweifeln die Holländer an der Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit

LISSABON taz ■ Neun Minuten vor Schluss war entschieden, dass die Geschichte für diese holländische Mannschaft nicht gut ausgehen würde. Der junge Flügelstürmer Arjen Robben war gerade entkräftet gegen Pierre van Hooijdonk ausgewechselt worden. Bondscoach Dick Advoccat hatte so in der Endphase seiner letzten Partie noch einmal nominell ein 4-3-3 auf dem Feld – die klassische Oranje-Formation, wie sie niederländische Dogmatiker immer von ihm gefordert hatten. Doch die Puristen im flachen Land wandten sich trotzdem mit Grauen. Statt von zwei schnellen Außen, wie sie das Lehrbuch vorschreibt, sah Ruud van Nistelrooy sich plötzlich mit van Hooijdonk und Roy Makaay von zwei weiteren Mittelstürmern flankiert, die alle auf die gleichen Vorlagen warteten. Also wurden die Bälle von den Abwehrspielern nur mehr rabiat nach vorne gedroschen.

In diesen Minuten wusste die Elftal, dass sie verloren hatte – unabhängig vom Ergebnis. Das hilflose Anrennen kam einem unverzeihlichen Affront gegen die fußballerische Leitkultur gleich, selbst wenn der Ausgleichstreffer noch gelungen wäre. „Sie hätten uns so oder so geschlachtet“, wusste ein trauriger Giovanni van Bronckhorst. Der linke Verteidiger gab einen Konzentrationsfehler beim 1:0 von Cristiano Ronaldo zu, hatte allerdings eher das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass man mit den schlichten Mitteln in den letzten zehn Minuten gefährlicher ausgesehen hatte als über weite Strecken der Partie.

„Wir haben insgesamt nur ein einziges gutes Spiel bei dieser EM gemacht“, bilanzierte van Bronckhorst. Verteidiger Jaap Stam äußerte sich nach seinem letzten Spiel in der Nationalmannschaft ähnlich selbstkritisch: „Wir haben den Pokal schon riechen können, aber ihn nicht verdient. Unser holländisches Spiel hat sich hier nie richtig durchsetzen können.“ Auch neutrale Beobachter hatten sich nach dem von jeglichen Zwängen der Pragmatik losgelösten Kamikazefußball wie beim 2:3 gegen die Tschechen gesehnt. Aber das Halbfinale war leider nur etwas mau dem Hupkonzert der Portugiesen entgegengehumpelt. Für das Spektakel und letztlich auch für das Wohl der Holländer wäre besser gewesen, wenn die Oranjes, wie es das Klischee verlangt, mal wieder an der Schönheit des eigenen Spiels zugrunde gegangen wären. Dann hätte man sich nach dem 1:2, dem 4. Ausscheiden im Semifinale einer EM in Folge, vielleicht endlich mal ein paar fundamentale Gedanken über Anspruch und Wirklichkeit gemacht.

Denn jedes Mal, wenn die Elftal den Rasen betritt, stehen zwei Gegner auf dem Platz: elf Spieler in kurzen Hosen und eine große, schrecklich-schöne Idee – das Primat des ästhetischen Spiels. In einer Zeit, in der die Unterschiede zwischen den Mannschaften immer geringer werden, haben die Niederländer am Schönheitsgebot besonders hart zu knabbern. „Wir müssen immer 4:0 gewinnen, der Druck ist sehr groß“, meinte van Bronckhorst, „zu groß.“

„Mir wird übel, wenn ich die TV-Analytiker höre“, sagte van Hooijdonk, „die wollen uns lieber im Halbfinale mit fantastischem Fußball ausscheiden sehen, als dass wir mit weniger gutem Fußball das Turnier gewinnen. Die Wahrheit ist, dass für unsere Mannschaft nicht mehr als das Halbfinale drin war. Wir waren einfach nicht so stark, wie manche gedacht haben.“

Diese Einsicht wird man nicht überall in Holland teilen. Man wird lieber den eh kurz vor der Demission stehenden Advocaat verantwortlich machen. Und weiter von glanzvollem Fußball träumen: Nach dem Abschied van Hooijdonk, Stam, Marc Overmars, den De-Boer-Brüdern und Paul Bosvelt muss es 2006 eine junge Generation dem Land Recht machen. Man kann Robben, Rafael van der Vaart und Wesley Sneijder nur wünschen, dass sie es in Deutschland nur mit dem Gegner auf dem Platz werden aufnehmen müssen.

RAPHAEL HONIGSTEIN