: Wie viel Raum bleibt in der Masse?
Alltagsbewegungen auflösen: Die Tanzinitiative Hamburg präsentiert im Stadion des FC St. Pauli „Urbane Rituale“
aus Hamburg PETRA SCHELLEN
Man sieht sie nicht, doch sie sind immer da: Auch in der Stille eines lauen Probenabends für das Tanzspektakel Urbane Rituale kann man die St.-Pauli-Fans hören, wie sie sich durch die eisernen Tore drängeln, vorbei an Antirassismus-Schildern zur Tribüne der Gegengerade. Dass man vom Hauptaufgang aus sofort den Hochbunker Feldstraße sieht, berührt da kaum noch – und schon gar nicht, dass er die Form eines Kastells zitiert. Und dann der Rasen: akribisch gepflegt, für Tänzer ausschließlich barfuß betretbar – ein echtes Heiligtum.
Ein Ort unüberschaubarer Massen ist das für gut 20.000 Menschen gebaute Millerntor-Stadion trotzdem nicht – jedenfalls nicht im Vergleich zum Volkspark-Stadion, das 55.000 BesucherInnen fasst. Doch vielleicht ist das Millerntor-Stadion gerade deshalb so gut geeignet, Masseninszenierungen im übersichtlich-handlichen Format vorzuführen. Seit zwei Wochen laufen die Proben zu den Urbanen Ritualen, einem Tanz-, Performance- und Musikprojekt, das am 6. September präsentiert werden soll. Initiatorin ist die Tanzinitiative Hamburg, ein 1993 gegründeter Zusammenschluss freier TänzerInnen und ChoreographInnen, deren erstes Großprojekt dies ist. „Wir wollen Bezug auf den Stadtteil nehmen und verschiedene Gruppen aus St. Pauli präsentieren“, sagt Produktionsleiterin Irmela Kästner. Zugleich soll das Event den Ort und die ihm inhärenten Bewegungsmuster in den Blick nehmen. „Es ist der Gegensatz von Individuum und Masse, der uns interessiert. Wir fragen uns, wie viel Raum dem Individuum bleibt in der Masse, wie sie bei Musik- und Sportveranstaltungen entsteht – und ob man dies auch anders handhaben kann.“ Man kann, sagen die OrganisatorInnen, die als Choreographen Thomas Kampe engagiert haben, der seit 1986 in London lebt und dort regelmäßig „site specific“-Projekte mit bis zu 250 TänzerInnen betreut. In Hamburg sollen es 150 bis 200 werden, die derzeit noch in kleinen Gruppen proben. Mit schrillen Pfiffen dirigiert Kampe bei den Proben die TänzerInnen, lässt sie auf der Wiese liegen und ornamentale Formationen bilden.
Die Grenzen zwischen Alltags- und Tanzbewegungen auszuloten ist Ziel Kampes, der seit 2002 die Tanzabteilung der London Metropolitan University leitet. Keine leichte Aufgabe: „Natürlich wissen wir, dass Massentanz in der Tradition von Rudolf Laban steht, der glaubte, dass jeder Mensch ein Tänzer sei“, sagt Annett Walter, Mitgründerin der Tanzinitiative, die mit Kampe Regie führt. Rudolf Laban (1879–1958), der den Tanz als natürliche Ausdrucksform jedes Menschen betrachtete, ging 1938 über Paris nach London ins Exil, nachdem die Nazis seine Choreographie für die Olympiade 1936 als zu „universalistisch“ verboten hatten. „Obwohl wir um diese – in Deutschland dann abgebrochene, in England aber weitergeführte – Tradition des Massentanzes wissen, müssen wir immer wieder neu entscheiden, ob wir in die Bewegungen den Überschwang des Ausdruckstanzes hineinlegen wollen“, sagt Annett Walter.
Denn in manche Gesten rutsche man wie aus Versehen hinein, „und wenn man Pathos vermeiden möchte, muss alles sehr abstrakt bleiben. Aber auch das hat Grenzen, denn unsere Aufführung soll auch anrühren“, fügt Irmela Kästner hinzu. Außerdem werden natürlich stadiontypische Fußballerbewegungen eingeflochten. Gern lässt Thomas Kampe zum Beispiel Dribbel-Formationen tanzen oder (Schiedsrichter?-)Ausbuh-Szenen, bei denen sich die Menge um einen stoischen „Schuldigen“ schart. Dann wieder wandern die TänzerInnen als gesittete Passanten über imaginäre Kreuzungen, immer wieder durch Trillerpfiffe gestoppt. Statisten, wie die Figuren des Bildhauers Alex Katz aus dem gewohnten Ambiente herausgestanzt. Eine Werkstatt, die Rituale bloßlegt, vielleicht entschärft und auflöst.
Das beginnt schon beim Betreten des Stadions: Wie ein Parcours ist bei den Urbanen Ritualen die Annäherung gestaltet: „Der Ort läuft quasi vorbei wie ein Film, während sich das Publikum bewegt. Die Rollen sind also vertauscht“, erklärt Kampe. Im Spielertunnel präsentieren zum Beispiel SolotänzerInnen kurze Sequenzen. Krasser Kontrast dazu werden jene sein, die die rosa Plastikzellen der Hamburger Künstlerin Petra Bachmaier, die seit 2000 in Chicago lebt, bevölkern: Mit Alltagsverrichtungen wie Kaffeetrinken, Essen, vielleicht Staubsaugen werden sie sich beschäftigen. Sie werden ausgestellt – wie auf einem Jahrmarkt eben. Eine nicht zufällige Anspielung auf den benachbarten Hamburger Dom und auf die – in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts beliebten – Völkerschauen Carl Hagenbecks, der damals am Neuen Pferdemarkt Lappen, Afrikaner und Asiaten präsentierte.
Als Bär oder als Angestellten-Pärchen mit Laptop werden daher am 6. September einzelne TänzerInnen hinter den Drahtzäunen unter der Tribüne der Gegengerade posieren. Ein Verweis auch darauf, dass Rudolf Laban seine Bewegungschöre 1922 in leer stehenden Sälen in Hagenbecks Tierpark einstudierte – in bizarrer Nachbarschaft von Mensch und Tier.
„Natürlich stellen wir hier nicht wirklich etwas aus: Nur die Form ist als Zitat gedacht“, betont Kästner. „Außerdem wollen wir Menschen, die sonst nichts miteinander zu tun haben und eine anonyme Masse bilden, zusammenbringen, mit ihnen arbeiten und Kontakte untereinander ermöglichen.“ Eine Seniorentanzgruppe wird zum Beispiel auf einem Podest standardisierte Runden drehen, wohingegen die belgisch-englische Retina Dance Company des Choreographen Filip Van Huffel einen ortsunabhängigen Gastauftritt haben wird. A-cappella-Gesänge soll der antirassistische, antikommerzielle Fanchor Ultra Sankt Pauli skandieren; die Antwort im Gospel-Format gibt der WorldMusicChor Humanity Private House, bestehend aus Laien aller Generationen und Nationen aus St. Pauli. „Der Clou unseres Projekts besteht darin, dass wir Profis und Laien zusammenbringen“, sagt Kästner – und darin, dass sie einander vielleicht umso deutlicher zeigen können, wo Bewegung zum leeren Ritual verkommt: Ist das geprobte Gedribbel noch Imitat oder – dekontextualisiert – schon neue Form? Ist der Ball wirklich angetäuscht oder ist auch dieses nur Spiel?
„Der Titel ,Urbane Rituale‘ leitet sich genau von dieser Frage ab: Wie organisiert man in der Großstadt sein Leben? Welchen Rhythmen gehorcht es, welche standardisierten Abläufe braucht jeder, um Struktur in den Alltag zu bekommen?“, fragt Kästner. Ein vielstimmiger „Rhythmus-Chor“ ergäbe sich, legte man all diese Strukturen übereinander – und genau dies praktizieren exemplarisch die Urbanen Rituale. Collagieren wollen die ChoreographInnen die Ausdrucksformen verschiedener Bevölkerungsgruppen des Stadtteils, sie mischen mit denen von Profis, die zum Netzwerk der Tanzinitiative gehören. „Dies ist – vom ersten Casting an – ein organischer Prozess“, sagt Kästner. „Als wir Tänzerinnen und Tänzer auf die Teilnahme an einer Masseninszenierung ansprachen, haben sie zunächst abwehrend reagiert, eben aufgrund der Historie.“ „Auch Inserate, die zur Teilnahme an vorgefertigten Projekten aufrufen, fruchten nicht“, weiß Thomas Kampe aus seinen Erfahrungen in England. „Aber Gruppen aus dem Stadtteil auf einen Beitrag anzusprechen, sie da abzuholen, wo sie sind – das funktioniert.“ Die demokratische Variante also – und die organische. Und weil das so ist, kann derzeit niemand vorhersagen, wie die Inszenierung letztlich aussehen wird. Klar ist aber eins: „Obwohl wir in der Form das – missbrauchbare – Massenspektakel zitieren, lösen wir das am Ende doch auf, indem wir das Publikum auffordern, mit aufs Spielfeld zu kommen“, sagt Annett Walter. „Das scheint mir die einzige Möglichkeit, aus der heiklen Situation ,Massentanz‘ herauszukommen.“
Anderseits zitiert genau dieser Kunstgriff wieder Rudolf Laban, dessen „Bewegungschöre“ explizit zum Mitmachen gedacht waren: Spätestens beim Zuschauen, so überliefern es die Quellen, überkam alle „eine unbändige Lust, nicht nur selbst etwas zu tun, sondern auch ihre Kinder, Freunde und Angestellten in dieser Kunst unterweisen zu lassen.“
Generalprobe (Vortrag, Party, Filme): 29.8., 20 Uhr, Triade/Bernstein, Bernstorffstr. 117, Hamburg. Aufführung: 6.9., 20 Uhr, Millerntor-Stadion