: Der Irak könnte Rechtsgeschichte schreiben
Der Prozess gegen Saddam Hussein und seine Getreuen ist eine Chance für Rechtsstaatlichkeit und Aussöhnung. Sein Gelingen würde auch der neuen irakischen Regierung nützen
BAGDAD taz ■ Die Zahl ist biblisch. Die Anklagepunkte gegen zwölf der höchsten Vertreter des ehemaligen irakischen Regimes, an ihrer Spitze Saddam Hussein, wurden gestern verlesen. Fast biblisch ist auch die Bedeutung des Verfahrens gegen sie. Für den Irak ist das Tribunal eine große Chance, zugleich aber eine mindest so große Bürde. Denn die Richter werden der Weltöffentlichkeit beweisen müssen, dass sie nicht Siegerjustiz üben, sondern den Grundstein für ein neues Rechtsverständnis im Land legen. Gemäß dem im Dezember 2003 verabschiedeten Statut für das Irakische Sondertribunal gehören dem Gericht nur irakische Richter an.
Menschenrechtsorganisationen haben deshalb den Vorwurf erhoben, den irakischen Juristen fehle es an Erfahrung und der nötigen Unvoreingenommenheit, die für ein solches Verfahren unabdingbar ist. Ein Einwand, den Haschim Schibli nicht gelten lassen mag. Der Rechtsanwalt hatte unter dem Regierungsrat neun Monate das Amt des Justizministers inne. „Die meisten Straftaten waren auch nach irakischem Recht strafbar“, sagt der 65-Jährige. So zum Beispiel der Giftgaseinsatz gegen das kurdische Städtchen Halabdscha im Jahr 1998. Ausdrücklich habe das damalige Recht den Einsatz von Massenvernichtungswaffen bei Straftaten untersagt. Das Gleiche gelte für die Vernichtungsoperation „Anfal“ gegen die kurdische Zivilbevölkerung zwischen Februar und September 1988, bei der über 100.000 Kurden ermordet wurden. „Das war Massenmord“, sagt Shibli.
Wie viele Iraker hält Schibli, der seit 33 Jahren als Anwalt praktiziert, den internationalen Argwohn gegen die irakische Justiz für völlig überzogen. „Der Irak ist in der Rechtsprechung kein Neugeborenes“, sagt er. „Hier wurde der erste Rechtskodex der Menschheit verfasst, und daran wollen wir auch anknüpfen.“ Das Statut sieht zudem vor, dass sich die Richter internationale Expertise holen können. Er sei sich sicher, dass das insbesondere bei der Frage nach Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch getan werde.
Für den Irak bietet sich jetzt die einmalige Chance, die tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften zu überbrücken und einen Prozess der nationalen Aussöhnung zu beginnen. Seit langem warten die Opfer auf Genugtuung für das erlittene Unrecht. Nichts eint die Iraker – selbst viele ehemalige Anhänger des Regimes – so sehr wie das kollektive Bewusstsein, über Jahrzehnte Opfer von Willkür und ausufernder Repression gewesen zu sein.
Damit kann das Verfahren der Regierungsmannschaft um Premierminister Allawi einen kräftigen Schub geben. Allerdings kann es sich leicht auch zur politischen Scharade mit dem ehemaligen Despoten ausweiten. Zumal an den Ermittlungen auch das FBI beteiligt ist.
Die Erwartung vieler Iraker auf einen baldigen Prozessbeginn werden sich wohl nicht erfüllen. Mindestens vier bis sechs Monate werden die Ermittlungen in Anspruch nehmen, sagt Schibli. Zwar haben Organisationen wie Human Rights Watch und die britische Indict Campaign im letzten Jahrzehnt, Dokumente und Zeugenaussagen zusammengetragen. Aus den Archiven der Diktatur liegen heute jedoch Millionen Dokumente vor, die noch ausgewertet müssen.
Offenbar setzt man beim Tribunal darauf, dass ein Teil der jetzt Angeklagten gegen Saddam aussagen wird. Nach Angaben von Peter Galbraith von Indict ist der ehemalige Vizepräsident Tarik Asis zu einem solchen Schritt bereit. In Bagdad geht man davon aus, dass auch Saddams engster Vertrauter, sein Sekretär Abed Hamud, sowie Ali Hassan al-Madschid, der für Anfal und den Halabdscha-Angriff verantwortlich war, gegen ihren Exchef auspacken werden.
Dem Verfahren steht freilich die katastrophale Sicherheitslage entgegen – aus Angst vor Anschlägen werden sowohl die Namen aller beteiligten Richter wie der Gerichtsort streng geheim gehalten. Nur Salim Chalabi, der Verwaltungschef des Tribunals, tritt überhaupt öffentlich in Erscheinung.
Unklar ist auch, ob die Todesstrafe verhängt wird. Viele Iraker fordern das lautstark, unter den Regierungsmitgliedern gibt es ebenfalls entsprechende Stimmen. Eine Entscheidung sei aber noch nicht getroffen, sagt Schibli.
Gelingt das Verfahren, wird der Irak Rechtsgeschichte schreiben. Noch nie haben örtliche Richter im Land der Täter selbst über diese zu Gericht gesessen. Alle großen Tribunale der letzten 60 Jahre fanden entweder im Ausland oder vor ausländischen Juristen statt. Zugleich ging im Zweistromland ein anderes unseliges Kapitel zu Ende – das des Lynchmords an ehemaligen Herrschern. INGA ROGG