piwik no script img

Archiv-Artikel

Wie von der Tarantel gestochen tanzen

Margherita D‘Amelio wurde in Apulien geboren. Vor 16 Jahren kam sie nach Berlin und ist hier hängen geblieben. Sie hat die Musik und die Tänze ihrer Herkunftsregion schätzen gelernt. Heute tanzt sie Pizzica Taranta. Der Tanz sollte jene Frauen heilen, die von der Tarantel gestochen wurden

„Folklore allein reicht zum Verständnis nicht aus“, erklärt Margherita D’Amelio Vom Ursprung her ist die Tarantella ein therapeutischer Tanz für Hysterikerinnen

VON WALTRAUD SCHWAB

Den Sommer in Berlin gilt es zu suchen. Weil er sich als Phänomen der Natur derzeit an Grönland oder – etwas weniger pessimistisch – an den Orkneyinseln orientiert und damit Heißblütiges auf Halbarktisches reduziert, bietet es sich an, die Jahreszeit der kurzen Nächte besser als kulturelle Erscheinung zu begreifen. Auf diese Weise steht Sommerimporten nichts mehr im Weg. Wie wäre es mit spanischem Flamenco, argentinischem Tango, karibischem Salsa oder einer Rumba? Oder soll’s Reggae sein und melancholischer Fado oder Sirtaki? Etwas von jenseits der Alpen auf jeden Fall, damit man die Sonne spürt.

Tarantella aus Italien wäre ebenfalls im Angebot. Wie heute Abend im Pfefferberg. Der wird zu einer italienischen Dorfpiazza, auf der die „Cantori di Carpino“ die reiche Musik ihrer Heimat geben. Mit Trommeln, Gitarren und Kastagnetten spielen sie schnelle, ekstatische Rhythmen, die alsbald von schrillem, mitunter schepperndem, eigensinnigem Gesang durchbrochen werden.

Von Kennern wird die Gruppe aus dem Dorf Carpino auf der Halbinsel Gargano im Norden Apuliens als „Buena Vista die Puglia“ bezeichnet. Der Vergleich mit den kubanischen Musikern bietet sich nicht nur deswegen an, weil die Band aus einer langen archaischen Tarantella-Tradition schöpft, sondern weil zu der neunköpfigen Gruppe auch zwei über 80-jährige Sänger gehören.

Zur Musik, die aufgespielt wird, wird an diesem Abend auch getanzt. Die repetitiven Schrittfolgen erinnern an türkische Folklore. Allerdings sind die Tänze schneller, mitunter auch eckiger, meint Margherita D’Amelio. Sie stammt aus dem süditalienischen Apulien, 1988 hat es sie nach Berlin verschlagen, wo sie hängen geblieben ist. Ihre Heimat hat sie sich in die Hauptstadt geholt, indem sie hier anfing, den traditionellen italienischen Tänzen nachzuspüren. Zusammen mit ihrer Laienkompanie tanzt sie im Pfefferberg die Tarantella del Gargano. Aber auch die Tammurriata, einen Trommeltanz, wird sie zeigen und die Pizzica Taranta. Dieser Tanz ist speziell jenen Frauen gewidmet, die von der Tarantel gestochen sind. Durch ihn sollen sie von ihrer Besessenheit geheilt werden.

Der italienischen Berlinerin, die das Festival im Pfefferberg künstlerisch leitet, liegt daran, dass verstanden wird, was die Spinne mit dem Tanz zu tun hat und warum jemand, der „wie von der Tarantel gestochen“ ist, nicht mehr aufhören will, sich zu bewegen.

„Folklore allein reicht zum Verständnis nicht aus“, sagt sie. Von ihren Ursprüngen her sei die Tarantella nämlich ein therapeutischer Tanz, erklärt D’Amelio. Hysterikerinnen, die in Körperzustände mit Zuckungen gefallen seien, die sie nicht mehr kontrollieren konnten, wurden durch den sich ständig wiederholenden Rhythmus der Tarantella zu einer kontrollierten Bewegung zurückgeführt. Heute versucht D’Amelio, die auch als Physiotherapeutin und Qi-Gong-Lehrerin arbeitet, den heilenden Aspekt der Tarantella wieder aufzunehmen und mit anderen therapeutischen Bewegungsrichtungen zu kombinieren.

Das süditalienische Apulien ist eine arme, bäuerliche Gegend. Die Lebensbedingungen für die Menschen waren bis weit in das letzte Jahrhundert hinein hart. Ora et labora – Bete und arbeite – war die Maxime. Für Menschen, die dem existenziellen Druck nicht standhielten und Depressionen, Hysterien oder psychische Störungen entwickelten, bot ein Kunstgriff einen Ausweg: der Stich der Tarantel. Das Gift, so hieß es, zwinge den Gestochenen die falschen Zuckungen auf. Geheilt wurden sie, indem sie den kranken Tanz in einen Kulturtanz verwandelten. Das konnte Tage dauern, denn erst wenn die Tarantel tot ist, werde die Gestochene erlöst. Diese kulturformenden Heilungen fanden bis in die Sechzigerjahre sogar in katholischen Kirchen statt.

Dass es angeblich fast nur Frauen waren, die von der Tarantel gestochen wurden, sagt etwas über deren Lebensbedingungen aus. Hysterikerinnen sind nach Freuds Theorie jene Frauen, die ihre Sexualität aufgrund der strengen moralischen Regeln nicht ausleben können und deshalb solche körperlichen Zwangsstörungen und Ticks entwickeln. Aufgrund der Lockerung moralischer Zwänge und infolge der Emanzipationsbewegung der Frauen habe sich das Krankheitsbild aufgelöst, erklärt D’Amelio.

Forscher allerdings vermuten, dass sich in der Tarantella viel ältere Überlieferungen verbergen. Aus ihrer Sicht handelt es sich um eine Verschmelzung alter dionysischer Riten mit dem Christentum. Dafür spräche, dass die Tarantella besonders stark in Regionen verbreitet ist, in denen von alten Leuten bis heute mitunter noch Dialekte gesprochen werden, in denen griechische Einflüsse erkennbar sind.

Es gibt viele verschiedene Arten, die Tarantella zu spielen, zu tanzen. Manchmal seien die Unterschiede schon von Dorf zu Dorf zu sehen, erklärt D’Amelio. „Sie haben eigene Instrumente, eigene Rhythmen, eigene Schrittfolgen.“ Vergleichbar seien in Deutschland vielleicht die vielen Dialekte, die manchmal schon von einem Dorf zum nächsten Dorf andere Färbungen haben.

Der Vergleich mit den Dialekten stammt nicht von D’Amelio selbst, dennoch verdeutliche er, was hier anders sei als in Italien. „In Deutschland wird viel vom Kopf her gemacht“, meint sie. In Italien sei das nicht so, hier feiere man lieber. Dass deutsche Tiefsinnigkeit sie allerdings fasziniert habe, als sie nach Berlin kam, das sagt sie auch.

Die Tarantella erlebt in Italien seit geraumer Zeit eine Renaissance. Aus dem therapeutischen Tanz wurde jedoch eine spielerische Form der Begegnung. Heute könne man die Tarantella nicht allein tanzen, meint D’Amelio. Man brauche ein Gegenüber. Für sie sei es eine Möglichkeit, loszulassen und sich dennoch nicht allein zu fühlen mit anderen Menschen. „Ich kann nicht nur mit ihnen sprechen, um sie zu verstehen“, sagt sie. Eine deutsch-italienische Synthese eben.