: Zwei Länder retten die Welt
Der Boom in China und Indien stellt die Kritik an Kapitalismus und Globalisierung in Frage. Er belegt: Erfolgreiche Wirtschaftsreformen helfen gegen Armut und Hunger
Vor etwa zehn Jahren begannen Positivmeldungen in die vielen offiziellen und inoffiziellen Berichte zur Lage in der Welt einzuziehen. Nach all der entwicklungspolitischen Elendsberichterstattung in den Siebzigern und Achtzigern über Hungersnöte, die Zerstörung der Regenwälder und Schuldenkrisen tauchten nun Sätze auf wie: „In den letzten 50 Jahren war ein größerer Rückgang der Armut zu verzeichnen als in den 500 Jahren davor.“ „Der Anteil von Familien auf dem Land ohne Zugang zu frischem Trinkwasser ist seit 1960 von neun Zehnteln auf unter ein Viertel zurückgegangen.“ „Die Kindersterblichkeit sinkt weltweit; dieser Trend hält an.“
Solche Erfolgsprosa soll zeigen, dass die Entwicklungspolitik in Dritte-Welt-Ländern und die Entwicklungshilfe des reichen Nordens trotz aller Rückschläge durchaus funktionieren kann. Kritiker monieren hingegen, dass genau der entgegengesetzte Eindruck entsteht: So lasse der moralische Druck auf die Politiker in den Geberländern und auf die internationalen Institutionen nach. Beweise für die erfolgs- oder misserfolgsorientierten Darstellungen hat bisher keine Seite beibringen können.
Unbestreitbar ist: Der Kapitalismus und seine jüngste Ausprägung, die Globalisierung, haben viel Elend in der Welt angerichtet. Doch besonders in den letzten zehn, fünfzehn Jahren haben Marktökonomie und Wirtschaftswachstum auch eine Menge Positives bewirkt. Per saldo geht es der Welt sogar etwas besser. Das bestätigt auch der auch von Kritikern geschätzte „Bericht über die menschliche Entwicklung“, den vor drei Wochen das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) vorgelegt hat.
So ist die Zahl der ganz Armen und Hungernden in der Welt im Jahrzehnt zwischen 1990 und 1999 trotz des Bevölkerungswachstums gesunken. Absolut nahm sie um mehr als 120 Millionen ab, relativ sank der Wert von global knapp 30 auf 23 Prozent. Die Verschlechterung der Lage hauptsächlich in Afrika wurde von der Verbesserung der Lage hauptsächlich in Ostasien überkompensiert.
Allein in China haben in diesem Zeitraum 150 Millionen Menschen ihre äußerste Armut überwunden. Und auch in Indien herrscht bei einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 4,4 Prozent Hoffnung. In diesen beiden Ländern lebt insgesamt ein Drittel der Menschheit. Die Chance, dass dort innerhalb einer Generation niemand mehr Angst vor dem schieren Verhungern haben muss, ist greifbar – dank marktwirtschaftlicher Reformen.
Das jedoch können Globalisierungskritiker nicht akzeptieren. Sie wenden etwa ein, dass in den meisten Ländern, für die vergleichbare Daten vorliegen, die Armut nicht ab-, sondern zunehme, also von den Hauptproblemen abgelenkt werde. Außerdem seien China und Indien Länder, die sich gerade nicht dem Diktat der internationalen Organisationen unterworfen hätten, sondern eigene Reformstrategien verfolgten. Wenn man zwei Länder lobe, die vergleichsweise äußerst wenig internationale Entwicklungshilfe empfangen, so die Kritiker, drücke man sich vor der zentralen entwicklungspolitischen Forderung: dass die wohlhabenden Länder mehr Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen müssten.
Außerdem spiele die Globalisierung angesichts der schieren Größe der beiden Länder keine sonderliche Rolle. Die enormen Entwicklungsunterschiede innerhalb Indiens und insbesondere Chinas bildeten ganz neue Krisenherde. Und Reformen, die auf Sträflingsarbeit und der Missachtung der Menschenrechte (China) beruhten oder durch Kinderarbeit und Korruption (Indien) geprägt seien, böten keinen Weg in eine akzeptable Zukunft.
Einige dieser Argumente sind taktischer Natur, andere stellen recht beliebige politische und moralische Kosten-Nutzen-Rechnungen dar. Manche Einwände wollen auf jeden Fall die grundsätzliche Verwerflichkeit der real existierenden Globalisierung retten, indem sie die beiden Länder von ihr ausnehmen.
Doch gerade damit liegen sie falsch. Wenn Außenhandel und ausländische Direktinvestitionen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung als Maßstäbe der Globalisierung gelten dürfen, ist China inzwischen globalisierter als Polen, sogar abgesehen vom statistisch noch immer gesondert ausgewiesenen Ein- und Ausfalltor Hongkong. Informell orientiert sich die Regierung in Peking sehr wohl an den Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds, von den Kapitalmarktbeschränkungen einmal abgesehen.
Und die enormen regionalen Diskrepanzen stellen mehr dar als nur ein Konfliktpotenzial. Mit jeweils mehr als einer Milliarde Menschen können die chinesische wie die indische Volkswirtschaft als „kleine“ globalisierte Welten gelten, mit weitgehender ökonomischer Durchlässigkeit, einem enormen Grad an Dezentralisierung und einer hohen Mobilität der Menschen, die nur durch schlechte Infrastruktur eingeschränkt wird. In der Summe, das beweist nicht nur die Hungerstatistik, werden auf diesen kapitalistischen Märkten deutlich mehr Probleme gelöst als geschaffen.
Ja, obwohl die indische Regierung ausgerechnet bei der Armutsbekämpfung versagt, hat die Mehrzahl der Menschen von der florierenden Wirtschaft profitiert. Das Problem ist jedoch: Die Politiker vermochten es in den 90ern lediglich, die Zahl der Hungernden konstant zu halten. Eine ganze Dekade lang schafften sie keine Reduzierung. Das ist zum einen ein bitteres Verteilungsproblem, zum anderen aber Ausdruck noch immer ungenügenden Wirtschaftswachstums; in großen Ökonomien kann jedes Prozent Wachstum, das nicht durch die Zunahme der Bevölkerung kompensiert wird, ohne große Probleme zu einer Abnahme der Hungernden um zwei Prozent führen.
Das wäre eine theoretische Erörterung, wenn sich nicht in der Praxis gezeigt hätte, dass in Indien selbst das Potenzial für eine sofortige Steigerung des Wachstums vorhanden ist. Jedes Mal wenn in den Neunzigerjahren eine Regierung einen neuen Reformanlauf gegen den verkrusteten Nationalkapitalismus unternahm, nahmen die Binneninvestitionen schlagartig zu. Und jedes Mal wenn neue Initiativen wieder an Parteiquerelen scheiterten, weil Wirtschaft nicht als wichtigstes Politikfeld gilt, wurde der Konjunkturschub hart gedämpft. Zudem befinden sich die ausländischen Direktinvestitionen auf einem grotesk niedrigen Stand. Gemessen an der Wirtschaftsleistung lag Indien 2001 sogar noch hinter dem unter Investoren als Abenteuer geltenden Russland.
Dabei weisen eine Menge Indikatoren darauf hin, dass der indische Kapitalismus – wenn er besser laufen würde als bisher – und erst recht der chinesische in den kommenden ein, zwei Jahrzehnten noch etwa eine halbe Milliarde Menschen aus der absoluten Armut holen könnte. Das ist sicher zu wenig, um als Modell für die Welt zu taugen, aber sicher zu viel, um Marktorientierung und Globalisierung aus dem entwicklungspolitischen Instrumentarium zu streichen.
DIETMAR BARTZ