: „Der Zionismus ist nicht in der Krise“,sagt Natan Sznaider
Vor hundert Jahren starb Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus – ein Blick zurück nach vorn
taz: Herr Sznaider, sind Sie ein Zionist?
Natan Sznaider: Klar bin ich ein Zionist.
Warum ist das klar?
Zum einen, weil ich hier lebe.
Also muss jeder Israeli ein Zionist sein?
In gewisser Weise ist jeder Jude, der hier lebt, ein Zionist – ob er will oder nicht.
Warum?
Wenn er israelischer Staatsbürger ist, übt er automatisch so etwas wie jüdische politische Souveränität aus. Das heißt, jeder jüdische Israeli ist Zionist.
Aber die Zahl der Juden, die nach Israel einwandern, sinkt seit Jahren. Der Zionismus scheint in der Krise zu sein.
Ich glaube nicht, dass es eine Krise ist, wenn derzeit die Zahlen zurückgehen und die Juden aus der GUS Deutschland Israel vorziehen. Zionismus ist in erster Linie die Ausübung jüdischer Souveränität in politischem Sinne. In Israel gibt es einen jüdischen Staat, jüdische politische Institutionen, eine jüdische Öffentlichkeit, eine jüdische Währung – alles, was Sie wollen. Der Zionismus ist in keiner Krise, das Land ist vielleicht im Moment in einer Krise wegen des Konflikts hier.
Was kann Zionismus noch sein, mehr als 50 Jahre nach Gründung des Staates: der Appell, nach Israel zu kommen?
Nein, ich glaube, das ist es gar nicht mehr. Wenn früher mal Zionisten glaubten, dass alle Juden in Israel leben müssen, ist das heute natürlich Unsinn. Es gibt eine sehr fruchtbare Diasporagemeinde in der Welt, etwa in Europa und den USA. Die jüdischen Gemeinschaften innerhalb und außerhalb Israels befruchten sich gegenseitig. Deshalb muss man Zionismus im ganz engen politischen Sinne verstehen, was auch Herzl meinte mit einem „Judenstaat“.
Den gibt es nun seit mehr als 50 Jahren. Muss er als jüdischer erhalten bleiben?
Das ist, was der Zionismus heute eigentlich bedeutet: die Erhaltung der jüdischen Souveränität, kein binationaler Staat, sondern ein jüdischer Staat.
Es gibt diese Rechenexempel, wonach man etwa 40.000 jüdische Zuwanderer pro Jahr bräuchte, damit der jüdische Anteil an der israelischen Bevölkerung bei über 80 Prozent bleibt – und man dann überhaupt noch von einem jüdischen Staat reden kann.
Ich möchte nicht anfangen, Babys zu zählen oder großartige demografische Rechnungen anzustellen. Wenn sich die Lage hier wieder etwas beruhigt und der Antisemitismus in Europa stärker wird, dann wird auch die Einwanderung wieder ansteigen. Das ist eine Phase, da Leute in dieser Krise weniger gern herkommen – aber auf lange Sicht wird das kein Problem sein.
Die so genannte Postzionisten in Israel verstehen den Zionismus als eine Variante des westlichen Kolonialismus.
In meinen Augen sind die, die sich heute nicht aus den besetzten Gebieten zurückziehen wollen, die wirklichen Postzionisten.
Ein echter Zionist zieht sich heute aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten zurück?
Ich würde das so definieren, obwohl ich damit wahrscheinlich mit vielen Leuten in politischen Streit geraten würde. Man muss die Lage ganz nüchtern sehen: Es ist wichtig, eine jüdische Mehrheit zu bewahren. Das geht nur, wenn das ganze Territorium geteilt wird. Man muss nicht unbedingt von ethnischer Homogenität reden, aber wenn es einen palästinensischen Staat mit einer überwiegend arabischen Bevölkerung gibt und einen jüdischen Staat mit einer überwiegend jüdischen Bevölkerung, ist das schon genug.
Schadet nicht der Verlauf der Sperranlagen, jetzt vom Obersten Gerichtshof Israels kritisiert, dem Zionismus, weil er die Projekte Israel und Zionismus selbst schädigt – weil er beide ins Unrecht setzt?
Darüber kann man streiten. Wenn dieser „antiterroristische Schutzwall“ die zukünftige Grenze markieren würde zwischen Israel und Palästina, mehr oder weniger auf der Grenzlinie von 1967, dann wäre er auch in Israel total akzeptiert. Es wird nicht darüber diskutiert, ob es einen Schutzwall geben soll, sondern wo er verläuft. Im Moment verläuft er für den Geschmack vieler zu tief auf palästinensischem Gebiet.
Auch nach Ihrem Geschmack?
Ja.
Wird der Zionismus derzeit wieder entdeckt wegen des „neuen Antisemitismus“ in Europa?
Auf jeden Fall. Wenn Leute vor zehn Jahren dachten, die Welt würde sich globalisieren, sich öffnen, wir alle zu einer großen offenen Gemeinschaft werden, ethnische Nationalprojekte überflüssig werden, dann sind durch den ansteigenden Antisemitismus der vergangenen Jahre gerade viele Juden in Israel und außerhalb zur Überzeugung gekommen, dass ein ethnischer Nationalstaat wie Israel wichtig ist – nicht nur für die Juden in Israel, sondern auch außerhalb.
Was würde Herzl heute fordern in Israel: die Amtssprache wieder Deutsch?
Ich glaube nicht. Herzl – das ist eine niedliche Geschichte. Meine Tochter geht auf die Herzl-Schule. Dort steht auch groß: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“. Herzl ist eine Ikone hier, man kennt das Bild mit dem Zylinder, dem Frack und dem Bart. Jede Stadt hat ihren Herzl-Boulevard, es gibt die Stadt Herzliya. Aber kaum ein Mensch weiß, wer das wirklich war. Das ist etwas aus der Alten Welt, aus Europa. Etwas, was mit dem Nahen Osten sehr wenig zu tun hat.
INTERVIEW: PHILIPP GESSLER