: Eine tödliche Gruppendynamik
Acht Kinder und Jugendliche prügelten 2003 in einer Orgie der Gewalt Obdachlosen zu Tode. Psychiatrische Sachverständige rätseln über die Aggressivität der Täter, die mit dem Opfer in einem Dorf lebten. Heute Urteil am Landgericht Mannheim
VON HEIDE PLATEN
Nach einer Zigarettenpause machten sie weiter. Mit Fußtritten, einem Pfahl und einem Besenstiel traktierten acht Jugendliche vergangenen Herbst einen Obdachlosen, mit dem sie sich um einen Holzverschlag stritten. Der Mittfünfziger starb zwei Tage später. Vor dem Landgericht Mannheim wird über fünf 14- bis 20-jährige Täter aus dem baden-württembergischen Dorf Neulußheim verhandelt – wegen gemeinschaftlichen Totschlags oder Körperverletzung mit Todesfolge. Das Urteil wird heute erwartet.
Die Tat war, so die Gutachten, eine zwei Stunden währende Orgie der Gewalt. Beteiligt waren die fünf Angeklagten und drei Mädchen. Gegen zwei von ihnen musste das Verfahren inzwischen wegen Strafunmündigkeit eingestellt werden. Alle acht wohnen in Neulußheim und besuchen die Realschule. Sie kommen, so die polizeilichen Ermittlungen, aus „ganz normalen Elternhäusern“. Auch das Opfer war im Ort bekannt, es galt als harmlos.
Der Tat soll ein längerer Streit um eine Baracke im Wald am Ortsrand vorausgegangen sein, in der Babies sich eingerichtet hatte und die die Jugendlichen für sich reklamierten. Der damals 19-jährige Hauptangeklagte soll die „Bestrafungsaktion“ angezettelt haben. Zuerst sei Babies hin und her geschubst worden, bis er stürzte, dann habe der 19-Jährige angefangen, den am Boden Liegenden zu treten, danach hätten dabei auch die anderen mitgemacht.
Die Jugendlichen schlugen dabei mit einem über zwei Meter langen Holzpfahl immer wieder auf den wehrlosen Mann ein – solange, bis der Pfahl zerbrach. Nach einer Zigarettenpause prügelten sie mit zwei Teilen eines Besenstiels abwechselnd weiter auf ihn ein. Anschließend gingen sie nach Hause und ließen den Mann sterbend zurück. Der sei, so die Gerichtsmediziner, erst in der übernächsten Nacht an seinen Verletzungen und an Unterkühlung gestorben.
Der Verteidiger des Hauptangeklagten monierte am Rande der Verhandlung, dass die Mittäter versucht hätten, die Schuld auf seinen Mandanten abzuwälzen. Der ehemalige Sonderschüler sei als einziger in Untersuchungshaft gekommen. Alle anderen gingen nach ihren Geständnissen weiter zur Schule. Sie hätten reichlich Gelegenheit gehabt, sich abzustimmen. In Wirklichkeit sei die Gruppe gleichermaßen beteiligt gewesen und hätte deshalb auch „gleich behandelt“ werden müssen.
Das Gericht hatte die Öffentlichkeit, wie in Jugendverfahren üblich, gleich zu Beginn ausgeschlossen. Es hörte elf Zeugen, vier medizinische Sachverständige und die Jugendgerichtshilfe an. Die Hauptverhandlung habe, so Prozessbeteiligte, keine neuen Erkenntnisse über Hintergründe und Motive der Täter ergeben. Keiner der Angeklagten habe ein umfassendes, erhellendes Geständnis abgelegt. Die beiden 15-jährigen Jungen hätten allerdings versucht, ihre Mitschuld abzuschwächen. Auch die psychiatrischen Sachverständigen hätten keine Erklärung für den Ausbruch und die Dauer der Aggressivität finden können. Bei keinem der beteiligten Jugendlichen habe es in der Lebensgeschichte irgendwelche Hinweise darauf gegeben, einzeln seien sie nicht gewalttätig. Sie vermuteten, dass die Gruppendynamik eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte. Alle seien schuldfähig, auch der Hauptangeklagte. Für ihn hatte die Staatsanwalt eine Haftstrafe von sechs Jahren gefordert, die anderen vier sollen mit Bewährungsstrafen davonkommen. Das Gericht hatte zuvor darauf hingewiesen, dass es erwäge, alle Angeklagten gleich zu behandeln und nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu verurteilen.