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Archiv-Artikel

Schutzlos in Gaza

Bühne frei für den Theoriestar: Judith Butler entwickelte im Audimax der FU mit viel Aufwand eine simple ethische Formel zum Schutz individuellen Lebens

Ein Ich, das singulär und ersetzbar zugleich ist, lässt sich nur sozial denken

Eine halbe Stunde vor Beginn ging nichts mehr: „Der Saal ist voll“, lautete die abschlägige Auskunft an alle Wissenshungrigen ohne Sitzplatz. Dabei hatten die Organisatoren der „Hegel-Lecture“ des Dahlem Humanities Center an der FU Berlin zunächst keinen übermäßigen Andrang erwartet und wollten die Veranstaltung in einem ganz normalen Hörsaal stattfinden lassen. Doch mit Judith Butler stand einer der größten amerikanischen Theoriestars der Gegenwart auf dem Programm. Nach 3.000 Voranmeldungen wurde die Vorlesung kurzerhand ins Audimax verlegt. Weil auch das nicht reichte, mussten die restlichen Philosophiebegeisterten auf einen von vier Hörsälen mit Videoübertragung ausweichen.

Judith Butler ist in der Theorieszene ein, man muss es so sagen, singuläres Phänomen. Kaum jemand in der Gegenwartsphilosophie schafft es wie sie, ein Massenpublikum anzuziehen, ohne die geringsten Zugeständnisse an den populärwissenschaftlichen Zeitgeist zu machen. Im Gegenteil, ihr Theorievokabular ist dermaßen hochgerüstet, dass sie es einem nicht eben leicht macht, ihr zu folgen. Die Philosophin wurde mit Beiträgen zur Gendertheorie bekannt, ihre Bücher „Gender Trouble“ („Das Unbehagen der Geschlechter“) und „Bodies That Matter“ („Körper von Gewicht“) gehören längst zum Grundbestand feministischer Theorie. Doch am Dienstag spielten Fragen der performativen Geschlechterrollensubversion in ihrem Vortrag keine Rolle. Butler sprach über „Frames of War“, die Rahmen(bedingungen) des Krieges, wenn man so möchte.

Angesichts der beständigen Konfrontation von Menschen mit Gewalt wollte Butler über Möglichkeiten nachdenken, das Leben zu schützen, „sofern es überhaupt welche gibt“. Nach ihrem der Theorie des französischen Philosophen Michel Foucault geschulten Ansatz lebt jeder Mensch als Körper in Abhängigkeit von sozialen und politischen Kräften, denen er auf vielfältige Weise ausgesetzt ist. Das Leben eines Körpers ist so stets von diesen Kräften bedroht. Als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen zum Verhältnis von Leben und Gewalt wählte Butler daher den Begriff der Unsicherheit („precariousness“) jeglichen Lebens.

Diese Gefährdung findet ihren höchsten Ausdruck im Krieg, der nichts weiter sei als eine Form der „Verwaltung“ dieser Unsicherheit. Wie können Individuen angesichts dieser Bedrohung miteinander leben? Butler sieht – im Rückgriff auf Hegel – Subjektivität in einem Spannungsverhältnis von Singularität und Ersetzbarkeit: Wenn ich mich selbst als ein Ich wahrnehme, trete ich aus meiner Singularität heraus, werde ein „anderer“ und austauschbar, bin also zugleich ich und nicht ich. Selbstbewusstsein stellt somit immer eine elementare Form von Sozialität her. Denn ein Ich, das sowohl singulär als auch ersetzbar ist, lässt sich nie in Isolation denken. Diese gegenseitige Abhängigkeit des Lebens bildet die Grundlage für jegliche Form von Gesellschaft. Butlers ethische Forderung lautet daher, die eigene Ersetzbarkeit und Singularität als unauflösbares Paradox zu leben.

Eine solche Ethik könne sich nicht auf bestehende Normen der Anerkennung stützen, um zu erklären, warum Leben schützenswert ist. Für die Anerkennung von schützenswertem Leben ist immer eine gewisse Form von Identifikation mit diesem Leben nötig. Identifikation bedeutet aber immer Ausschluss und führt so zur Unterscheidung von schützenswertem und nicht schützenswertem Leben. Statt auf Anerkennung komme es vielmehr darauf an, das Leben in seiner Unsicherheit überhaupt wahrzunehmen bzw. zu erkennen – und zwar unterschiedslos. Wenn man also zur Kenntnis nimmt, dass jedes Leben gleichermaßen unsicher und bedroht ist, ergibt sich daraus fast zwangsläufig, dass jedes Leben auch gleichermaßen schützenswert ist. Butler zieht daraus eine politische Konsequenz: Man müsse jegliche Form der Vernichtung von Leben ablehnen. Auch eine Ungleichverteilung von Unsicherheit oder von Trauer um ein verlorenes Leben sei nicht zu rechtfertigen.

Als Beispiel für eine ungleiche Verteilung von Unsicherheit nannte Butler die gegenwärtige Politik im Gazastreifen: So gebe es auf beiden Seiten eine Steigerung der eigenen Unsicherheit, gleichzeitig verweigere man sie jedoch der Gegenseite. Sogar innerhalb der einzelnen Gruppen komme es zu Ungleichheit, wenn einzelne Menschen, wie bei der Hamas, als Schutzschilde verwendet und so zu „Kriegskörpern“ gemacht würden, die man opfert, um anderes Leben zu schützen. Als Gegenstrategie empfahl Butler, bei der Frage nach dem Schutz des Lebens gerade den Fremden in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen, dieser sei schließlich „radikal unsicher“.

Butlers Ansatz ist so elementar argumentiert wie anspruchsvoll vorgetragen. Mit den zentralen Grundannahmen, dass Leben immer gesellschaftlich ist und zugleich sehr leicht wieder vorbei sein kann, versucht sie den Begriff der Gewalt ohne das Postulieren eines positiven Werts zu kritisieren: Wenn jedes einzelne Leben gleichermaßen vom Tod bedroht ist, gibt es keinen Grund, es im Einzelfall einem anderen Leben vorzuziehen. Man hätte diese Erkenntnis vielleicht auch einfacher haben können. TIM CASPAR BOEHME