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Archiv-Artikel

Knochenjob mit Aussicht

Was tun, wenn die Kuh nicht will, was sie soll? Wenn die Ziegen den Stall auseinander nehmen? Das Leben als Alphirt lehrt selbst junge Großstädter: Ruhe bewahren und arbeiten!

Das Leben auf der Alp ist eine körperliche Herausforderung. Und eine soziale. Die Zusammenarbeit muss klappen, sonst ist die Arbeit nicht zu schaffen. Bei Martin und Heiko hat sie nicht geklappt. Seit letzten Sommer sind sie keine Freunde mehr.

Die ersten Tage waren für die beiden Alpneulinge noch ganz ruhig. Mitten in der Einöde aus Gräsern, Kräutern und Steinen bezogen die Berliner Studenten eine kleine, moderne Alphütte. Sie genossen die Leere, den Wind und erkundeten die Umgebung. Dann kamen die Bauern, denen die Alp gehört, errichteten Zäune und erklärten den Berlinern den Arbeitsablauf. Tags darauf trieben sie ihre Kühe auf die Alpweiden. „Ab da hatten wir keine ruhige Minute mehr“, erzählt Martin.

Mit Kühen hatte der 25-Jährige vorher kaum etwas zu tun. Sein Landwirtschaftsstudium, sagt er, sei eher theoretisch ausgerichtet. „Das größte Problem war das Küheholen am Nachmittag – die standen überall verteilt am Berg, und wir wussten nicht, wie wir sie zum Stall bekommen sollten.“ Sie hätten schließlich ziemlich unkontrolliert auf die Kühe eingedroschen, erinnert sich Martin und muss bei der Erinnerung schlucken. „Heiko wollte die Kühe unterwerfen, und wenn sie im Stall nicht gehorchten, hat er sie krass getreten.“

Martin beschlichen Gewissensbisse und Zweifel. Zweifel auch an Heiko, mit dem er seit zwei Jahren gut befreundet war. Der habe seine Aggressionen nicht unter Kontrolle gehabt und immer bestimmen wollen. Klar habe auch er selbst Schuld daran gehabt, dass es nicht so gut lief. Er gönnte sich öfter mal eine Pause, und anfangs war er krank. Zwei Tage lang musste Heiko alles alleine machen. „Das frühe Aufstehen, schlechtes Wetter und der permanente Stress hat uns beide total zermürbt“, so Martin heute.

Weil sie nicht über ihre Schwierigkeiten redeten, habe sich die Situation hochgeschaukelt. Aus Trotz ließ Martin seinem Kollegen einmal Arbeit übrig, und der stand dann wutschnaubend vor ihm, packte ihn und schleuderte ihn herum. Am nächsten Morgen ist Martin zurück nach Deutschland gefahren. Ob er daran gedacht hat, wie es für die Bauern ist, plötzlich ohne Hilfe dazustehen? „Klar war es Mist, dass ich ausgefallen bin.“ Aber schließlich hätte es unten im Dorf noch andere Aushilfen gegeben. Heiko ist auf der Alp geblieben und hat nach ein paar Tagen einen Ersatzmann für Martin gefunden.

Am Anfang des Wintersemesters habe er Heiko in einer Vorlesung wieder gesehen, erzählt Martin. Eigentlich wollten sie sich zu einer Aussprache treffen, aber Heiko habe abgesagt. „Wir reden zwar noch miteinander, aber als Freund ist Heiko für mich erledigt. Dort oben hat er auf einmal eine ganz andere Seite von sich gezeigt.“

Dörte

Vier Uhr nachmittags. Die große braun-schwarz gescheckte Ziege mit den langen Hörnern steht in der Mitte des Stalls und wartet darauf, gemolken zu werden. Sie ist die Chefin in der kleinen Herde, und alle halten respektvoll Abstand zu ihr. Die hellen Glöckchen der Ziegen erzeugen bei jeder Bewegung einen Klang. Ein paar der eigenwilligen Tiere versuchen den alten Stall auseinander zu nehmen, andere liefern sich Rangkämpfe. Doch Dörte, ihre Hirtin, lässt sich anscheinend durch nichts aus der Ruhe bringen. Langsam führt sie eine nach der anderen auf ein selbst gezimmertes Podest. Dort steht die Melkmaschine, und für jedes Tier gibt es eine Hand voll Salz zur Belohnung.

Dörte trägt dicke Bergstiefel und abgewetzte Arbeitskleidung. Wenn die 31-Jährige mit ihren Ziegen spricht, bekommt ihre Stimme einen schmeichelnden, warmen Tonfall. Von sich selbst erzählt Dörte sachlich, fast trocken. Seit ein paar Jahren zieht die gelernte Gärtnerin von Hof zu Hof. Im Sommer arbeitet sie auf der Alp, im Herbst in der Weinlese. Mit einem kleinen Auto bereist sie als Wanderarbeiterin Deutschland und die Schweiz. Wenn das Geld reicht, legt sie sich den Winter über auf die faule Haut oder sie reist als Backpacker durch Südamerika. Die Alp, sagt die Hirtin von dreißig Ziegen und siebzig Jungrindern, sei keine Flucht, eher ein Rückzugsraum, den sie brauche, um Klarheit zu finden.

Die industrielle Landwirtschaft im Flachland gefällt ihr nicht. „Hier oben finde ich Inspirationen, wie ein anderes Leben aussehen kann.“ Zum Beispiel so: weniger Ressourcen verbrauchen und bei der Arbeit den Rhythmus der Natur erleben. Von den Bauern hier hat sie viel gelernt. Etwa im Umgang mit Tieren. Ihre Ziegen beobachtet Dörte genau. Die ängstlichen und rangniederen Tiere melkt sie zuerst, damit sie nicht von den anderen beim Warten malträtiert werden.

Früher ist die gebürtige Norddeutsche wochenlang durch Schweden gewandert und hat allein in einem kleinen Wohnwagen im Wald gewohnt. Auf dieser Alp im Kanton Graubünden will sie nicht noch einmal den Sommer verbringen, denn die alten Alphäuser werden abgerissen, ein neues Wohnhaus mit Käserei soll gebaut werden. „Dabei ist hier alles schon so modern, es gibt sogar eine Zufahrt, fließend warmes Wasser und Strom.“

Sie will zurück auf eine Alp, auf der sie schon früher gearbeitet hat. Dort liegt die Alphütte eine Stunde Fußweg vom letzten befahrbaren Weg entfernt. Alle Werkzeuge und die Einrichtung wurden von Hand hochgebracht, und bis auf Motorsäge und Melkmaschine hat sich daran seit hundert Jahren nicht viel geändert. Vor Modernisierung ist Dörte dort sicher, die könnte sich der Bauer nämlich gar nicht leisten.

Jakob

„Morgens gehst du ganz nach dem Glockengeräusch, und du musst höllisch aufpassen, dass du nicht stolperst oder ausrutschst.“ In der einen Hand hält Jakob den Hirtenstab, in der anderen eine Taschenlampe. Auf der umzäunten Nachtweide liegen die Kühe und dösen noch. Unten im Tal sieht man die Lichter von Davos. Langsam beginnt es zu dämmern, und gegenüber zeichnen sich die Berggipfel ab: links das Weißhorn, daneben das Schwarzhorn, weiter hinten das Jakobshorn und ganz auf der anderen Seite das Weißfluhjoch.

Zusammen mit seinem Freund Michel kümmert sich Jakob hier auf der Alp den Sommer über um vierzig Milchkühe und hundert Jungtiere. Früh morgens und nachmittags müssen die Kühe zum Melken geholt werden. Dazwischen bleibt Zeit für Arbeiten im Stall und Kontrollgänge bei den Jungtieren. Bei schlechtem Wetter ist die Arbeit ein Knochenjob. Seine Freunde in Berlin, wo der 26-Jährige Landwirtschaft studiert, fragen sich, was ihn hierher zieht.

Geld und Glamour jedenfalls nicht. Ausgerüstet mit einer alten NVA-Jacke, Jeans und Gummistiefeln, stützt er sich schlaksig auf seinen Hirtenstecken. Im weiten Raum zwischen Baumgrenze und Himmel liegen der Stall und die Hütte wie Fremdkörper. Die steinigen Bergwiesen werden vom Plätschern kleiner Bäche unterbrochen. Es riecht süßlich nach Alpenblumen und würzig nach frischen Kuhfladen.

Wenn die Sonne aufgeht, taucht sie die Umgebung für fünf Minuten in rosafarbenen Glanz, kurz darauf beginnen die Schneefelder an den Bergspitzen zu leuchten. Das Naturerlebnis, sagt Jakob, entschädige für die harte Arbeit. „Ich bin jetzt seit über vierzig Tagen hier oben, vorgestern musste ich ins Dorf. Da habe ich das erste Mal wieder Autos gesehen, und das Busfahren hat mir ein Bauchkribbeln verschafft, als wäre ich in der Achterbahn.“

Aber auch hier oben ist Jakob nie fern von Technik und Zivilisation. Skiliftanlagen, die direkt am Haus vorbeiführen, sorgen dafür, dass die Alpenromantik nicht ausufert. Um acht Uhr beginnt die Kabinenbahn zu brummen, und ein Bauer kommt, um die noch warme Milch für die Molkerei abzuholen – und Jakob Brötchen zu bringen. Nach drei Stunden Melken freut der sich auf das Frühstück. Ein langer Arbeitstag und eine kurze Nacht liegen vor ihm. Um fünf Uhr früh wird sich Jakob wieder mit der Taschenlampe auf die Suche nach den Tieren machen.

TILL BELOW, 26, ist selbst Ex-Älpler. Er studiert Landwirtschaft und Soziologie in Berlin