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Archiv-Artikel

das sommerwunder (4) CLAUDIUS PRÖSSER erklärt, warum der Sommer in Berlin so schön ist

Die Stadt klebt

Als die Israeliten auf der Suche nach dem Gelobten Land die Wüste durchquerten, litten sie mehr als einmal großen Hunger, den der HErr auf wundersamer Weise zu stillen wusste. Süßes fiel wie Tau vom Himmel, schmeckte wie Honig und genannt ward es: Manna.

Wie der gelblich-transparente Stoff heißt, der in Berlin sommers vom Himmel zu fallen scheint und sich zäh auf Gehwegplatten, Straßenmobiliar und vor allem parkende Autos legt, wissen eher wenige. Bekannt ist: Er klebt. Und wie.

Bleiben Niederschläge eine Woche oder länger aus und heizt die Sonne der Stadt schön ein, konzentriert sich der klebrige Film, schweißtropfenartige Gebilde entstehen, die sehr langsam, der Schwerkraft folgend, über Windschutzscheiben und Kühler nach unten rinnen. Wer schon eine Weile in Berlin lebt, weiß zumindest aus Erfahrung, dass der wundersame Kleister irgendetwas mit dem Baumbestand der betreffenden Straße zu tun hat.

In Wahrheit ist die Sache etwas unappetitlich. Vom Saft der Linde (Tilia), Berlins häufigstem Straßenbaum, von dem nicht ungezählte, sondern exakt 150.387 in der Hauptstadt stehen (so viele waren es jedenfalls am 31. Dezember 2001), ernährt sich die gemeine Blattlaus. Erstaunlicherweise hält sie wenig vom Zuckeranteil des grünen Blutes, den sie folgerichtig in konzentrierter Form wieder ausscheidet.

Fahrradfahrer kennen das Phänomen, dass auch an wolkenlosen Tagen bisweilen feine Tröpfchen im Gesicht spürt, wer gerade unter Lindenbäumen hindurchfährt. Das ist kein Regen, sondern Blattlauspuller, wie Berliner Kinder sagen würden, um nicht drastischere Worte zu wählen.

(Dass Bienen die von Biologen euphemistisch als Honigtau bezeichnete Flüssigkeit gern anstelle von Blütennektar konsumieren, in ihrem Verdauungstrakt zu Honig umwandeln und diesen aussscheiden, indem sie sich erbrechen, soll hier aus Gründen des guten Geschmacks unerwähnt bleiben.)

Was daran schön sein soll?

Erstens, es ist Natur.

Zweitens, es mildert das persönliche Schicksal des Schwitzenden – wenn selbst das Trottoir klebt, ist es nur noch halb so schlimm, dass das Hemd am Rücken pappt.

Vor allem aber, drittens: Es lädt zum Träumen ein. Denn das Zeug ist ja zuckersüß, quasi reiner Lindensirup. Straßenränder voller glasierter Pkws …

Lebten wir in der besten aller möglichen Welten, in der die hienieden durchaus angebrachten Hygieneregeln aufgehoben wären, könnte man sich unbesorgt gütlich tun an dem Naschzeug. Kitagruppen bekämen Reviere aus lindengesäumten Straßen zugeteilt und machten sich alsbald bienengleich über die kandierten Fahrzeuge her. Andererseits gäbe es in der besten aller möglichen Welten gar keine Autos und ohnehin wäre alles süß und essbar.

Aber träumen will erlaubt sein, jedenfalls an einem flirrend heißen Sommertag und bis zum nächsten Gewitterregen. Der den ganzen klebrigen Zauber übrigens in Minuten und fast rückstandslos abwäscht.