Kleine Hopser durch die Luft

12 Sekunden, die die Welt veränderten: der erste motorisierte Flug der Brüder Wright vor hundert Jahren in Kitty Hawk. Ein Jahr lang feiert der amerikanische Bundesstaat North Carolina die Pioniere und ihre Großtaten. Auch die Armee mischt mit

Die Eigenschaften der Flying Brothers: „Genie, Glaube, Entscheidungskraft“ „The Wright Stuff“ wird zur Corporate Identity von ganz North Carolina

von GÜNTER ERMLICH

„Vier Flüge erfolgreich Donnerstagmorgen. Alle gegen einen Wind von 21 Meilen. Start vom Boden allein mit Maschinenkraft. Durchschnittliche Geschwindigkeit in der Luft 31 Meilen. Längster Flug 57 Sekunden. Informiert die Presse zu Hause.“ Ihre Großtaten telegrafierten die Brüder Wright von Kitty Hawk, North Carolina, an ihren Vater in Dayton, Ohio. Kleine Hopser durch die Luft, Meilensteine für die Menschheit. Der uralte Traum vom Fliegen hatte sich erfüllt. Und wird jetzt, hundert Jahre nach der Pioniertat, im US-Bundesstaat North Carolina ein ganzes Jahr lang heftig gefeiert. Schon 1998 setzte der US-Kongress eine Hundertjahrfeier-Kommission ein, die das Großereignis generalstabsmäßig vorbereiten und global publik machen sollte. „12 Sekunden, die die Welt veränderten“ und „Von Kitty Hawk bis zum Mond in 66 Jahren“ lauten die hoch fliegenden Botschaften, die Touristen aus aller Welt anlocken sollten. Herausgekommen ist ein Mammutprogramm mit Ausstellungen, Wettbewerben, Festivals, Konzerten und einer Vielzahl von Flugschauen, Ballonrennen und Drachenflügen.

„The Wright Stuff“ wird zur Corporate Identity von ganz North Carolina. Selbst die Autonummernschilder tragen hier den Zusatz „First in Flight“. Der Schauplatz des historischen Ereignisses liegt in Kitty Hawk, am Tor zu den Outer Banks. Eine Kette von schmalen Sandinseln, 200 Kilometer lang, die sich wie eine Sichel um die Atlantikküste legt und vom Motorway 12 durchzogen wird. Pinienwälder, Marschland und Sanddünen prägen den von Wasser umschlungenen, windumtosten Küstenstreifen. „Friedhof des Atlantiks“ nannten die Seefahrer die tückischen Gewässer. Lokalhistoriker haben 640 Schiffe verortet, die vor den Inseln auf Grund liegen. Bis vor einer Generation waren die Inseln noch entrückt, die Einwohner lebten abgeschieden. Brücken und Fähren halfen, die Outer Banks zu erschließen – auch für den Tourismus.

Es wurde in die Dünenlandschaft geklotzt, nicht hoch, aber viel. Kaum Hotels, aber jede Menge zweistöckige Ferienhäuser. Sie sind aus Holz, haben Balkone und stehen auf Stelzen – als Schutz vor Überschwemmungen. Die einfachen Häuser kosten 2.000 US-Dollar Ferienmiete pro Woche, die luxuriösen das Vierfache. Immobilienfirmen sitzen an jeder Ecke. 30.000 Insulaner erwarten diese Sommersaison den Zulauf von sieben Millionen Urlaubern. Und was macht der Urlauber? Er geht baden, angeln, segeln, windsurfen, Drachen fliegen, Golf spielen oder den Geländewagen am Strand ausführen. Und ein bisschen was für die Bildung tun.

Das „Wright Brothers National Memorial“. Der Geburtsort des Flugexperiments ist heute eine nationale Gedenkstätte. Ein weites, mit Gras bewachsenes Feld. Vor hundert Jahren war hier nichts als Sand, sagt Jim Cross. Der drahtige Park Ranger in Uniform und mit Strohhut erzählt die Erfolgsstory mehrmals am Tag, aber so anschaulich und fesselnd, als sei es das erste Mal und als sei er damals selbst dabei gewesen.

Es ist der 17. Dezember 1903. Ein kalter, stürmischer Wintertag. 34 Grad Fahrenheit, Windstärke 6. Um 10.35 Uhr wird das Seil losgelassen, das Fluggerät bewegt sich auf der Startschiene. Orville steuert bäuchlings den Flugapparat, Wilbur hält das Ende des Flügels. Als der „Flyer“ diesen Punkt hier erreicht – der Ranger zeigt ehrfürchtig auf einen Gedenkstein –, hat er genug Geschwindigkeit und Auftrieb, dass er aus eigener Kraft in die Luft geht. Der erste Motorflug der Menschheit: 12 Sekunden lang. 36 Meter weit. Kürzer als die heutige Flügelspanne eines Jumbo 747. John T. Daniels von der Küstenwachstation, der nie zuvor einen Fotoapparat gesehen hatte, drückt den Auslöser und hält den erhebenden Moment fest. Ein berühmter Schnappschuss mit Ewigkeitswert.

Am gleichen Morgen machen die Wright Brothers noch drei weitere motorisierte Luftsprünge: Wilbur landet bei 53 Metern, Orville bei 61 Metern, dann wieder Wilbur. Rauf und runter wie eine Achterbahn hopst die fliegende Kiste durch die Luft, das Höhenruder ist nur schwer zu kontrollieren und landet bei stolzen 260 Metern. Weltrekord! Erst dieser letzte Flug überzeugte die internationale Fluggemeinde restlos, erklärt Ranger Cross, erfüllte alle drei Kriterien, die einen „richtigen“ Motorflug ausmachen: Die Geschwindigkeit bleibt gleich, Start- und Landeplatz liegen auf einer Höhe, die Strecke ist länger als 90 Meter (300 Feet).

Vier Granitblöcke markieren die Landeplätze der Kurzstrecken. Heute spazieren Touristen kurz behost und Eis schleckend an ihnen entlang, beäugen sie wie Meisterwerke im Museum. Auf dem Big Kill Devil Hill, einem bepflanzten Sandhügel, thront ein Fliegerdenkmal von anno 1932. In den Sockel des turmhohen Granitklotzes sind die Eigenschaften der Flying Brothers geritzt: „Genie, Entscheidungskraft und unbesiegbarer Glaube“. Ihr originalgetreuer Flyer steht im Besucherzentrum Modell: ein tuchbespannter Doppeldecker, dazwischen ein Gerippe aus Holzstangen, mit einem Motor und zwei Propellern.

Der erste Flug fiel nicht vom Himmel. Die Karriere von zwei namenlosen Fahrradhändlern aus Ohio, die zu weltbekannten Flugpionieren aufstiegen, hatte irdische Gründe. Sie erbaten vom US-Wetteramt Daten über die Windgeschwindigkeit und wählten Kitty Hawk, damals noch ein Fischernest, als geeignetes Experimentierfeld. Von 1900 bis 1903 machten sie 1.000 Flüge mit immer größeren, raffinierteren Gleitern. „Die Wrights waren in allem übergenau, studierten Bücher über Bücher, benutzten wissenschaftliche Methodik“, sagt Ranger Cross.

Von der Eroberung der Lüfte durch die Wrights bis zur militärischen Lufthoheit der US Air Force war es nur ein kurzer Zeitsprung. Der „Wright Military Flyer“ von 1909 diente als erstes Militärflugzeug der Welt. Und so schlachtet heute auch die Luftwaffe die Jahrhundertfeier des ersten benannten Motorflugs in ihrem Sinne aus. Unter dem Motto „Born of dreams. Inspired by freedom“ wirbt die Air Force im Jahrhundertfeier-Pavillon neben dem Museum. Für sich und um fliegerischen Nachwuchs. Ein Vater posiert stolz lächelnd mit seinen vier ebenso stolz lächelnden Kindern für ein Foto vor einem ultramodernen F/A-22 Fighter.

„Kitty Hawk ist der Ort, wo das Fliegen begonnen hat und Fayetteville das, was aus dem Fliegen geworden ist“, sagt der frühere Tourismusminister von North Carolina ganz ungeniert. Recht hat er, in Fayetteville regiert unübersehbar die Armee: Fort Bragg ist mit 45.000 Mann die größte Kaserne in den USA, die benachbarte Pope Air Force Base beherbergt weitere 5.000 Soldaten. „Thanks to our troops. Job well done“, begrüßt Burger King auf einem Reklameschild in Fayetteville die Kriegsheimkehrer aus dem Irak. „Im Jahr 1991 wurden 50.000 Soldaten von hier zum ersten Golfkrieg eingezogen, die Stadt war praktisch sieben, acht Monate leer, das Wirtschaftsleben lag am Boden“, erzählt der Mitarbeiter des Museums der Luftlandetruppen. In diesem zweiten Golfkrieg seien aber höchstens 20.000 Mann dort gewesen.

Das Museum ist ein Besuchermagnet. Tageslicht durchflutet die Lobby. Von der Decke hängen schön kontrastreich ein runder T-5-Fallschirm aus dem Zweiten Weltkrieg und ein moderner rechteckiger MC-4-Fallschirm, an ihnen baumeln mannsgroße Springerpuppen. „Erleben Sie die Opfer, den Mut, die Pflichterfüllung und die Leistungen derjenigen, die in den Kampf springen“, weist die Broschüre den Weg durchs Museum. D-Day in der Normandie, Vietnam, die Operationen in Grenada und Panama, schließlich Desert Storm. Der ultimative Kick: eine Helikopter-Attacke – live im Simulator!

Downtown Fayetteville. Jedes zweite Geschäft in der Haupteinkaufsstraße steht leer. Weil die US-Truppen so viel in der Welt unterwegs sind? Selbst am Samstagabend ist der Boulevard ausgestorben. Nur das plüschige Cameo Theater ist gut besucht. Gezeigt wird der preisgekrönte Film „Wings“ mit Gary Cooper in einer Nebenrolle. Ein Organist vertont den Stummfilm kongenial. Der Film kam 1927, drei Monate nach dem ersten Transatlantikflug von Charles Lindbergh, in die Kinos.

Am nächsten Mittag findet auf der Pope Air Force Base die militärische Flugschau statt. Der Höhepunkt des „Festival of Flight“ in Fayetteville. „Keine Waffen!“ steht warnend am Eingang. Zehntausende Popcorn essende Schlachtenbummler verfolgen mit Feldstechern die Künstler der Lüfte. Darunter nicht wenige, die selbst kurz zuvor noch mit einem Kriegsvogel für die „Operation Iraqui Freedom“ bombten. Über zweihundert Fallschirmspringer ergießen sich heute aus dem stahlblauen Himmel, eine museale JU zieht schwer röhrend ihre Bahn, vietnamerprobte Helikopter demonstrieren einen Luftangriff. „Sie haben alle das gleiche Ziel: den Vereinigten Staaten zu dienen“, verkündet der Moderator mit fester Stimme und beschwört „die Macht der Ideen: Freedom! Liberty!“ Zum Abschluss fegen sechs F-16-Bomber des Showteams „Thunderbirds“ über die Köpfe der staunenden Fliegergemeinde hinweg. Als sie am Boden ausrollen und die Parade der Zuschauer abnehmen, schiebt eine Frau ihren Mann im Rollstuhl ganz nah ans Flugfeld. Der Mann streckt die rechte Hand hoch und macht, vor Glück strahlend, das V-Zeichen. Wie auf Bestellung schallt aus den Lautsprechern: „God bless America!“

Am Rand des Rollfelds steht die Replik eines Wright-Doppeldeckers von 1913 und findet kaum Beachtung. Der Motor tuckert wie ein altersschwacher Rasenmäher – und wird von seinen Urenkeln, den kreischenden Düsenjägern, locker übertönt. Am 17. Dezember 2003 wird das Rad der Fluggeschichte in Kitty Hawk um ein Jahrhundert zurückgedreht. Zu den zivilen Wurzeln und dem Abenteuer. Auf die Minute genau, um 10.35 Uhr, soll ein auserwählter Pilot versuchen, den ersten Motorflug in einem exakt nachgebauten Wright’schen Flyer zu wiederholen. Wie einst Orville und Wilbur wird er sich auf das untere Deck legen und die fragile Kiste (hoffentlich!) zum Fliegen bringen.