Auf vernunftgeleiteten Wegen

Die Zukunft der Arbeit (Teil 9): In Zeiten der Krise ist die Kreativität des Individuums gefragt – der studierte Berliner Philosoph Holger Schnell bietet „Philosophische Lebensberatung in Hausbesuchen“ an und versucht existenzielle Problemlagen zu lösen

Gibt es eine Zukunft der Arbeit? Muss es überhaupt eine Zukunft der Arbeit geben? Und was bedeutet Arbeit eigentlich? Die nächsten Folgen unserer Serie handeln von Popjournalisten, die zu Schokoladenladenbesitzern werden, und Ärzten mit verschlungenen Lebensläufen

von KIRSTEN KÜPPERS

In Zeiten der Krise muss man sich umstellen, hat der 35-jährige Holger Schnell aus Berlin-Wedding gedacht. In Zeiten der Krise ist das Individuum mit seiner Einzelleistung gefragt. Und dass die Welt ein großer Supermarkt geworden ist, in dem die Menschen Tag und Nacht umherlaufen und ihre Waren und Beziehungen einkaufen – das ist längst keine neue Entwicklung. Wenn die Masseure und Feng-Shui-Berater ins Büro kommen, genauso wie das Essen in isolierten Behältern, wenn Niedriglohnkräfte die Hunde spazieren führen und schöne Kindergeburtstage organisieren, dann ist das Land schon mittendrin in dieser anderen Zukunft. Nein, die moderne Struktur des Kapitalismus ist auch an Holger Schnell nicht vorbeigegangen. In Zeiten der Krise muss man sich neue Berufe ausdenken. Er hat es sich überlegt.

Denn Holger Schnell ist keiner, der einfach nur zusieht, wie die Dinge an ihm vorbeiziehen. Er hat jetzt Zettel drucken lassen, auf denen steht: „Ausgebildeter Philosoph mit vielseitiger Unterrichtserfahrung bietet Philosophische Lebensberatung in Hausbesuchen“. Die Zettel hat er in Kneipen in der ganzen Stadt verteilt, in Cafés und im Westberliner Literaturhaus. Nun sitzt Schnell zu Hause in seiner Einzimmerwohnung im Bezirk Wedding und wartet ab, was passiert.

Holger Schnell ist eine zierliche Person mit blassem Gesicht und hellen Augen. Er trägt eine schwarze Jeans und sein Hemd hat ein kompliziertes Muster aus vielen Stichen, Karos und schrägen Linien. Natürlich ist es nicht so, dass er nur neben dem Telefon sitzt und wartet und hofft. Nebenbei schreibt Schnell seine Doktorarbeit. „Der Beitrag der Existenzphilosophie Nietzsches, Kierkegaards und Heideggers zur Philosophie des guten Lebens“ ist das Thema. Und das ist ja wirklich eine Aufgabenstellung, die zu seinem neuen Berufsbild passt. Denn so wie Nietzsche die Verzweiflung eines Selbst beschreibt, „das die Dimensionen des Lebens nicht in einen Ausgleich bringen kann“, so wie Kierkegaard zwischen „Möglichkeiten“ und „Notwendigkeiten“ unterscheidet, so wie Kants Transzendentalphilosophie nach den „Bedingungen der Möglichkeit“ fragt, so hat sich nun irgendwie auch Holger Schnell „die Analyse existenzieller Problemlagen und deren Bewältigung“ zur Aufgabe gemacht, wie er erklärt. Es seien schließlich die „existenziellen Problemlagen“, die „die Idee eines gelingenden Lebens vor eine Herausforderung“ stellten, meint er.

Eigentlich wollte Holger Schnell über seine neue Selbstständigkeit reden. Von den drei Kundinnen mittleren Alters, die schon angerufen haben bei ihm, über sein Geschäftsmodell, die Preise, das Angebot. Aber wenn Holger Schnell einmal auf die „existenziellen Problemlagen“ zu sprechen gekommen ist, scheint alles in seinem Kopf in eine ganz andere Richtung zu fallen. In eine, in der es um weitaus größere Dinge geht als um die belanglosen Einzelheiten der Existenzgründung eines bislang eher unauffälligen Geisteswissenschaftlers in Berlin. Holger Schnell analysiert offen die Situation, in der wir uns alle befinden. Er benutzt Sätze, die Schlimmes andeuten, wo es keine Hoffnung gibt, kein Ziel und keinen Ausweg. Ausdrücke wie „Stimmung der Angst“, die „Austauschbarkeit des Ich“, das „rollenbestimmte Alltagsleben“ und das „Leiden an der Vergänglichkeit“ wechseln sich ab. Es klingt alles ziemlich dramatisch jetzt.

Und wenn der Mensch dann schon ganz niedergeschlagen ist von den vielen Sätzen, von all den Beschädigungen, die die konkurrenzkapitalistische Gesellschaft für den Einzelnen bereithält. Wenn das Gegenüber sich schon fast aufgegeben hat, weil es die moderne Welt, in der wir leben, ja auch nicht so recht versteht, dann erst kommt Holger Schnell zu seiner Idee. Zu seinem Modell, das Rettung verspricht im „semantischen Durcheinander der heutigen Zeit“: Es ist der Philosoph in der Beraterfunktion.

„Angesichts einer unüberschaubar gewordenen Vielfalt von Sinnangeboten, Werten und Normen biete ich Hilfe und Anleitung zur Selbstaufklärung in Fragen der Identität, des Glücks und des guten Lebens“, sagt Holger Schnell. Er wird kommen und „argumentative vernunftgeleitete Wege“ finden, das kann er versprechen. Auch bei „moralischen Dilemmata und Entscheidungskonflikten“, beim „Umgang mit letzten Fragen und spirituellen oder religiösen Problemen“ will Holger Schnell helfen. Es ist ganz einfach. Man muss ihn nur anrufen, dann kommt er vorbei. Eine Beratungsstunde kostet 40 Euro. Auch über eine Lebensbegleitende Betreuung lässt sich reden. Er ist flexibel, er ist noch neu in dem Geschäft.

Drei Kundinnen hat er bislang versorgt. Es waren Frauen mittleren Alters, er hat sie beraten. Das ist vielleicht nicht viel, das ist erst ein Anfang. Aber wer den Fähigkeiten von Holger Schnell nicht traut, der muss nur die alten Leute in der Seniorenbegegnungsstätte „Sonnenblume“ fragen. Holger Schnell ist ein Profi in seinem Gebiet. Schon mehrfach hat er in der „Sonnenblume“ in Berlin-Moabit Vorträge zu philosophischen Themen gehalten. Er hat sich bei seiner Rede selbst auf der Gitarre begleitet, das Publikum war begeistert. Die Musik ist übrigens ein zweites Standbein von Holger Schnell. Unter dem Künstlernamen „Ho Jay“ tritt er mit Cover-Versionen von Joe-Cocker-Songs regelmäßig in diversen Berliner Gaststätten auf.