Augen auf! Afrika marsch!

Zur Aufstellung von Eingreiftruppen ist Afrika auf Hilfe von außen angewiesen

VON DOMINIC JOHNSON

Zum Gipfelauftakt gab es vom Gastgeber Äthiopien gleich zwei gute Nachrichten. Das einst größte Flüchtlingslager der Welt, Hartisheik, sei nach der Repatriierung der letzten 719 Bewohner nach Somalia nunmehr geschlossen, meldete das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR am 1. Juli. Kurz zuvor hatte das UNHCR verkündet, ausgerechnet aus Äthiopien sei Lebensmittelhilfe für Flüchtlinge aus dem westsudanesischen Kriegsgebiet Darfur unterwegs.

Äthiopien als Synonym für Flüchtlingselend und Hungernot – diese Zeiten sollen endgültig vorbei sein. Zuversicht und Optimismus fallen leicht in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, Sitz der Afrikanischen Union (AU) und Tagungsort von deren heute beginnendem Jahresgipfel. Die boomende Metropole zwischen den grünen Hügeln des äthiopischen Hochlands, Hauptstadt eines der ältesten Nationalstaaten der Welt, bietet eine Mischung aus ehrwürdiger kaiserlicher Vergangenheit und modernem Wohlstand. Auf breiten, lebhaften Boulevards den besten Kaffee der Welt zu genießen verleitet leicht zu Sätzen, wie sie AU-Kommissionpräsident Alpha Oumar Konaré in das Vorwort zum neuen Strategiepapier des panafrikanischen Bündnisses geschrieben hat: „Wir können nur unsere Begeisterung darüber ausdrücken, dass das von den Gründern der Afrikanischen Union herbeigesehnte Afrika ein Afrika ist, das sich seines Potenzials bewusst ist …, ein Afrika, mit dessen Kraft man rechnen muss.“

Die Staatschefs und hochrangigen Politiker aus 53 Staaten – wenn Äthiopiens Erzfeind Eritrea seine Boykottabsichten nicht doch noch wahr macht – können bei ihrem dreitägigen Gipfel auf zahlreiche Erfolge zurückblicken. Erst 2001 löste die AU offiziell die kraftlose „Organisation für Afrikanische Einheit“ (OAU) ab. 2002 verabschiedeten die AU-Staatschefs die Gründung eines Sicherheitsrats mit Möglichkeiten zu Militärinterventionen, 2003 bildeten sie eine AU-Kommission nach dem Modell der EU-Kommission, mit Malis Expräsident Konaré als Chef. Dieses Jahr beschleunigte sich der Rhythmus: Am 25. Januar wurde der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte offiziell installiert, am 18. März das Panafrikanische Parlament, am 25. Mai der Afrikanische Sicherheitsrat.

Die neue afrikanische Sicherheitsstruktur hat messbare Erfolge. Mehrmals in den letzten Monaten, wenn ein Konflikt in einem afrikanischen Staat auf Nachbarländer überzugreifen drohte, haben AU-Strukturen sich als deeskalierend erwiesen. Etwa beim latenten Konflikt zwischen Tschad und Sudan über die Auswirkungen des Krieges in Darfur, wo Sudans Regierungsarmee und verbündete Milizen über eine Million Menschen vertrieben haben: Hier beschloss die AU im April, einen Waffenstillstand zu überwachen und Friedensgespräche zu fördern. Früher hätte Tschad angesichts grenzüberschreitender Angriffe aus dem Sudan Frankreich oder Libyen zum Eingreifen aufgefordert. Oder bei der Eskalation der Kämpfe zwischen Milizen im Osten der Demokratischen Republik Kongo im Juni, als ein Krieg mit Ruanda drohte: Nigerias Präsident Olusegun Obasanjo als Vorsitzender des AU-Sicherheitsrats trommelte die Präsidenten beider Länder zum Gipfelgespräch zusammen. Sie vereinbarten die gemeinsame Grenzüberwachung, wofür Ruanda nun eine AU-Beobachtertruppe will. Früher führten solche Spannungen zum Krieg.

Auch beim parallel laufenden gesamtafrikanischen Entwicklungsprogramm Nepad (Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung), mit dem Afrikas Regierungen durch politische und ökonomische Reformbekenntnisse ausländisches Kapital auf den Kontinent locken und damit das afrikanische Wirtschaftswachstum auf 7 Prozent verdoppeln wollen, gab es dieses Jahr einen entscheidenden Schritt nach vorn: Auf einem Gipfel in Ruanda Mitte Februar startete der umstrittene „Peer Review Mechanism“ zur gegenseitigen Überwachung der politischen Lage in einzelnen afrikanischen Ländern. Dieses Jahr sollen sich Ghana, Kenia, Mauritius und Ruanda einer ersten politischen Evaluierung durch Expertenkomitees unterziehen; insgesamt haben sich 17 Staaten zur Mitarbeit an diesem Programm verpflichtet.

Gemeinsamer Nenner dieser Entwicklungen ist die Aufgabe des Prinzips der absoluten und unantastbaren nationalen Souveränität. Dieses bestimmte Afrikas Politik, solange die Entkolonisierung und das Erlangen staatlicher Unabhängigkeit den wichtigsten identitätsstiftenden Faktor der jungen Staaten Afrikas bildete. Aber in den 90er-Jahren war die Entkolonisierung abgeschlossen. Immer mehr afrikanische Diktatoren wurden von der eigenen Bevölkerung gestürzt, und schließlich zeigte Ruandas Völkermord, zu welchen Verbrechen auch souveräne afrikanische Staaten fähig sind. Damit verlor Afrikas postkoloniale Ordnung ihre Unschuld. Jetzt wird Afrikas Selbstbild eher von dem Gedanken bestimmt, dass der Kontinent seine schwachen Kräfte bündeln muss, wenn er in der globalisierten Welt überhaupt bestehen will.

Ein „Strategischer Plan“, den die AU-Kommission heute dem Gipfel in Addis Abeba vorlegt, legt nun die politische Integration als Leitidee der AU fest, mit dem Endziel der Vereinigten Staaten von Afrika. Gelingen könne das nur durch eine „Versöhnung Afrikas mit sich selbst“ – also unter Einbeziehung nicht nur von Politikern, Diplomaten und Unternehmern, sondern auch der Bevölkerung, vor allem der Jugend, und der in der ganzen Welt verstreuten afrikanischen Diaspora in den Aufbau eines „integrierten, wohlhabenden und friedlichen Afrika“.

All dies, so realistisch ist Konaré immerhin, geht aber frühestens ab 2015. Kurzfristig braucht die AU erst mal Geld, denn die vielen neuen Institutionen sind teuer. Bisher hat sie jährlich rund 45 Millionen Dollar zur Verfügung. Ab sofort will der AU-Chef rund 570 Millionen im Jahr – 1,7 Milliarden Dollar für 2004 bis 2007, davon 600 Millionen für Nepad-Programme und 600 Millionen für einen Peacekeeping-Fonds. Er hätte dafür gerne aus jedem afrikanischen Land eine AU-Abgabe in Höhe von 0,5 Prozent des Staatshaushalts, ließ Konaré im Februar wissen. Doch die wird er wohl nicht bekommen. Sobald es um Geld geht, verlagert sich die Diskussion von abstrakten Zielen, die jeder teilt, auf konkrete Probleme. Hier zeigt sich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der AU, die Afrikas Einheitsträume schon immer belastet hat.

Zum Beispiel Peacekeeping: Anfang April erklärte sich die AU prinzipiell bereit, 120 Militärbeobachter nach Darfur zu entsenden. Aber drei Monate später ist kein einziger AU-Soldat am Einsatzort. Eine AU-Eingreiftruppe, die kurzfristig vom AU-Sicherheitsrat in Konfliktherde entsandt werden könnte, gibt es noch nicht, obwohl das entsprechende Protokoll von einer 15.000 Mann starken Interventionsarmee bis 2010 spricht, mit ersten Brigaden bereits 2005. Um Kontingente aus Mitgliedstaaten abzurufen – unter anderem Nigeria, Südafrika und Ruanda wollen sich an einer AU-Mission in Darfur beteiligen –, braucht es Geld und logistische Kapazitäten. Dafür ist Afrika auf Hilfe von außen angewiesen.

Der Peacekeeping-Fonds der AU, den Konarés Plan mit bescheidenen 200 Millionen Dollar im Jahr anlegt (zum Vergleich: Die UNO gab letztes Jahr 2,3 Milliarden Dollar für Blauhelmtruppen aus), enthielt letztes Jahr ganze 6 Millionen Dollar. Nun hat die EU zwar 250 Millionen Dollar zum Aufbau afrikanischer Friedenstruppen zugesagt, und die USA versprachen sogar 660 Millionen. Aber dieses Geld wird nicht der AU zur Verfügung gestellt, sondern eigenen Ausbildungs- und Aufbauaktivitäten.

Vor allem die USA, die Afrika neuerdings als Nebenkriegsschauplatz des Krieges gegen den Terror ansehen, verfolgen eigene Prioritäten. Eine „Pan-Sahel-Initiative“ der USA in Zusammenarbeit mit Algerien schult und unterstützt Militärs aus Mauretanien, Mali, Niger und Tschad im Aufspüren mutmaßlicher islamistischer Kämpfer in der Wüste Sahara. Erste Einsätze gegen algerische Rebellen, die sich im Tschad verschanzt hatten, gab es im März. Die zuständige US-Kommandozentrale in Stuttgart soll wegen dieser Schwerpunktverlagerung von „Eucom“ in „Euraf“ umbenannt werden. Als Partner in der Zusammenarbeit mit Afrika nennt Eucom sechs afrikanische Regionalorganisationen, aber nicht die AU und auch nicht die territorial geeignete, von Libyen gegründete Cen-Sad (Gemeinschaft der Sahara- und Sahel-Staaten).

Die Rivalität zwischen Libyen und Südafrika als Paten der AU gilt als weiterer Stolperstein auf dem Weg zur Einheit. Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi sieht sich als Gründer der AU: Die Idee dazu lancierte er auf einem außerordentlichen afrikanischen Staatengipfel im libyschen Sirte am 9. September 1999, und das Datum „9-9-99“ beschwört er seitdem als Beginn einer neuen Ära für Afrika. Südafrika aber ist die treibende Kraft hinter dem Entwicklungsprogramm Nepad und tut auch in der Realität mehr für Afrikas Vereinigung – beispielsweise waren südafrikanische Truppen der Kern der allerersten AU-Eingreiftruppe, die mit insgesamt 2.700 Mann von März 2002 bis Juni 2004, als eine UN-Mission sie ablöste, in Burundi stand.

So lehnten Afrikas Staaten bei einem AU-Sondergipfel in Libyen im März einen praxisfernen libyschen Vorschlag ab, sämtliche Armeen Afrikas in einer panafrikanischen Streitmacht zu verschmelzen. Die Eile der AU beim Einrichten ihrer diversen Gremien ist auch dem südafrikanischen Drängen darauf geschuldet, dem medienwirksamen Gaddafi nicht die alleinige Initiative beim Ausrufen neuer afrikanischer Meilensteine zu überlassen. Südafrika will auch nicht, dass Libyen zum Sitz des Afrikanischen Parlaments wird.

An all diesen Problemen wird sich beim Gipfel in Addis Abeba nichts ändern. Realistischerweise wäre es für die AU schon ein Erfolg, wenn nach dem Gipfeltreffen die Darfur-Beobachtermission – für die die EU längst Geld zugesagt hat – endlich entsandt werden könnte. Aber letztendlich sind afrikanische Beobachter eher pessimistisch. Der ugandische Intellektuelle Tajudeen Rahman, der seit Jahrzehnten für die panafrikanische Idee streitet, schrieb: „Es kann ja wohl nicht sein, dass unsere Regierungen ungerechte Kriege führen können, ohne dafür um Auslandshilfe zu betteln, aber kein Geld finden, wenn es darum geht, ein friedliches und vereintes Afrika zu schaffen.“