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Archiv-Artikel

Großzügigkeit ist streng geregelt

Die BVG wirbt mit „Kulanz-Regeln“: Wer etwa in die Tram einsteigt und kein Kleingeld für den Automaten dabeihat, kommt davon – muss aber beim nächsten Stopp raus

Was ist „Kulanz“? Der Duden lehrt: „entgegenkommend“, „großzügig“. Zwei Worte, die die BVG bei der Definition ihrer neuen Kulanz-Regeln bemerkenswert konsequent ignoriert.

So sieht die neue „Großzügigkeit“ vor, dass die erste Station Straßenbahnfahren frei sein kann: Wer in der Tram nur große Scheine dabeihat, mit denen er an Ticketautomaten nicht bezahlen kann, darf eine Station mitfahren, ohne als Schwarzfahrer zu gelten. Man sei ja quasi in der Tram gefangen und habe keine Möglichkeit zu wechseln, erklärt BVG-Sprecherin Petra Reetz. Nach der Station muss aber flugs ausgestiegen, gewechselt und auf die nächste Tram gewartet werden. Auch Müttern gewährt die BVG großzügig eine Station, um sich samt Kinderwagen durch die volle Tram zu boxen.

Die zweite „Großzügigkeit“ betrifft Touristen: In vielen anderen Großstädten kommen die Tickets bereits entwertet aus dem Verkaufsautomaten. Wer nicht weiß, dass es hier anders läuft, und das Stempeln vergisst, soll auch nicht Bußgeld zahlen müssen. Allerdings muss bei der nächsten Station ausgestiegen, gestempelt … Sie wissen schon.

Dem Fahrgastverband Igeb geht die Kulanzoffensive der BVG nicht weit genug: „Es ist ein erster Schritt, aber insgesamt sind die Regeln in Berlin-Brandenburg noch viel zu streng“, so Igeb-Vorsitzender Christfried Tschepe. In Berlin müsse der Einzelfahrschein-Käufer auf dem schnellsten Wege fahren. In anderen Städten seien längere Zwischenaufenthalte erlaubt. Außerdem brauche in Berlin auch der einen Fahrschein, der einen Freund zum Zug bringt: Man betritt ja den Bahnsteig. „Kulanz ist nett, begründet aber keinen Anspruch“, sagt Tschepe.

Die BVG hingegen setzt größere Hoffnungen auf die Kulanz-Regeln: „Was bisher reine Ermessenssache war, ist jetzt auch für den Kunden eindeutig“, sagt Reetz. Wie die Regeln bei den Fahrgästen ankommen, könne noch nicht gesagt werden: „Dafür ist es noch zu früh.“

Offen bleibt auch die philosophische Frage, ob sich die Wörter „Kulanz“ und „Regel“ überhaupt mit Bindestrich kombinieren lassen. Beinhaltet „Kulanz“ doch irgendwie, eben nicht auf Regeln zu bestehen. FLORIAN HÖHNE