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Archiv-Artikel

Aidsepidemie gerät außer Kontrolle

Mit neuen, genaueren Zählweisen korrigiert das UN-Aidsprogramm UN-Aids die Zahl der an HIV/Aids leidenden Menschen in der Welt zwar nach unten. Die Zahl der Neuinfektionen ist aber massiv gestiegen. Aidsprogramme „zufällig und ineffektiv“

VON DOMINIC JOHNSON

Statistiken können tückisch sein. Vergleicht man über die Jahre die jeweils neuen Gesamtzahlen der Aidsbekämpfung zuständigen UN-Behörde UN-Aids über „mit HIV/Aids lebende Personen“, gibt es diesmal Grund für Optimismus: 37,8 Millionen waren es vergangenes Jahr – nach 42 Millionen 2002 und 40 Millionen 2001. Bei genauerem Hinsehen erweist sich der Rückgang jedoch als Trugschluss: Es wurde für den gestern veröffentlichten Jahresbericht 2003 einfach genauer gezählt. Wenn die alten Daten nach der neuen Methode ausgewertet werden, gab es 2001 nicht 40 Millionen Aidskranke und HIV-Infizierte, sondern nur 34,9 Millionen, so dass die Gesamtzahl tatsächlich gestiegen ist.

Grund für den Zahlensalat ist der Umstand, dass es in vielen Ländern keine verlässlichen Erhebungen über HIV-Infektionen gibt, sondern lediglich Stichproben und Hochrechnungen. Die dabei zugrunde gelegten Annahmen sind zuweilen problematisch, wie UN-Aids in diesem Bericht erstmals analysiert: So wird von der Infektionsrate unter schwangeren Frauen in einer bestimmten Gemeinschaft normalerweise auf eine gleich hohe Infektionsrate bei den anderen geschlossen; in amtlichen Datenerhebungen sind Leute ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung nicht vertreten. Genauere Untersuchungen in Ländern wie Südafrika, Simbabwe, Sambia oder Kenia hätten erwiesen, „dass bisherige Schätzungen, die auf Hochrechnungen basierten, zu hoch waren“, schreibt UN-Aids.

Eindeutig sind lediglich die Zahlen für Neuinfektionen. Hier ist der Trend katastrophal. 4,8 Millionen Menschen steckten sich laut Bericht im Jahr 2003 neu an – mehr als je zuvor. Es ist eine eindeutige Trendumkehr: 1999 lag die Zahl der Neuinfektionen bei 4 Millionen, 2000 bei 3,8 Millionen, 2001 bei 3,4 Millionen, und 2002 stieg sie leicht auf 3,5 Millionen an. Die jetzt gemessenen 4,8 Millionen sind ein deutlicher Sprung nach oben.

Die Zahl der Aidstoten sank demgegenüber leicht, von 3,1 Millionen 2002 auf 2,9 Millionen. Dahinter verbergen sich steigende Todesraten in Afrika, was bedeutet, dass in anderen Weltteilen die Infizierten dank besserer Medikamente deutlich länger leben. Wegen der vielen Toten steigt die Zahl der Infizierten in Afrika südlich der Sahara nicht mehr so stark wie früher. Auch dies eine List der Statistik.

Für den schlechten Trend bei den Neuinfektionen gibt es keinen einfachen Grund. Die größten Zunahmen bei der Zahl der Infizierten – im Vergleich zu 2001 mit der gleichen Zählweise – gibt es in bisher wenig in Erscheinung getretenen Ländern: Papua-Neuguinea (plus 60 Prozent, von 10.000 auf 16.000), Mauretanien ( plus 51 Prozent, von 6.300 auf 9.500), Südkorea (plus 48 Prozent, von 5.600 auf 8.300) und Madagaskar (plus 40 Prozent, von 100.000 auf 140.000). Weder mit dem Wohlstandsniveau noch der Effektivität der Regierungen lässt sich das erklären.

UN-Aids-Chef Peter Piot bilanziert in seinem Vorwort zwar: „Wir wissen, was funktioniert. Erfolgreiche Zugänge entwickeln sich auf lokaler, nationaler und globaler Ebene. Die Eigendynamik internationaler politischer Führung, die Programme am Arbeitsplatz und die dynamische Mobilisierung betroffener Gemeinschaften – ein Schlüsselelement unserer globalen Antwort – helfen dabei.“ Doch das reicht offenbar nicht: „Seit 2002 haben sich die globalen Geldmittel für den Kampf gegen Aids fast verdreifacht, aber sie bleiben ungenügend und kommen aus unterschiedlichen Gründen nicht bei den Bedürftigsten an.“

Mängel sieht UN-Aids vor allem bei der nötigen Gesetzgebung zum Schutz von Aidsopfern vor Diskriminierung und beim gleichberechtigten Zugang von Frauen zu Gesundheitsversorgung. Ein noch dramatischeres Bild zeichnet die Afrikanische Union (AU) in einem Bericht, der gestern den Staatschefs des Kontinents zur Eröffnung des AU-Gipfels in Äthiopien vorgelegt werden sollte. Trotz massiver Finanzhilfen aus dem Rest der Welt sei Afrika im Begriff, den Kampf gegen Aids, Malaria und Tuberkulose zu verlieren. In nur vier Ländern gebe es systematische medizinische Versorgung von an Geschlechtskrankheiten leidenden Menschen. Über zwei Drittel aller Länder Afrikas hätten keine Behandlungsprogramme für HIV-infizierte Schwangere und Säuglinge.

Um die Lage wieder zu verbessern, fordert UN-Aids, den gegenwärtigen Zustand unkoordinierter Einzelprogramme zu überwinden und eine „dynamische“, global koordinierte Aidsbekämpfung auf die Beine zu stellen. Als ersten Schritt für diese „Next Agenda“ müsse jeder Staat seine eigenen Programme bündeln. Dann müssten diese international gefördert werden.

„Die Aidsepidemie steht am Scheideweg“, schreiben die Autoren des Berichts. „Wenn die Antwort der Welt auf Aids in ihrem gut gemeinten, aber zufälligen und ineffektiven Zustand verharrt, wird die Epidemie weiter schneller voranschreiten als die globale Reaktion.“ Das wird auch das Thema der Weltaidskonferenz sein, die am kommenden Wochenende in Thailands Hauptstadt Bangkok beginnt.