Sofia on my mind

Streifzüge durch Europa (III): Ein herrliches Land – voller ungelöster Konflikte und Probleme. Landschaftlich ein Paradies, gesellschaftlich zweigeteilt, und auf die eigentlichen Schönheiten weist kein Schild hin. Eine Liebeserklärung an Bulgarien, das sein Potenzial an Geschichten erst noch entdecken muss

Festung, Wagenburg oder Groß-WG? Die Europäische Union wird 2004 um zehn Beitrittsländer erweitert. Wie aber kommen das „alte“ und das „neue“ Europa in der Praxis miteinander klar? Und wie können sich die Beteiligten jenseits der großen Zusammenschlusspläne ihre kulturellen Eigenheiten erhalten?

von JOCHEN SCHMIDT

Bulgarien ist kein leichtes Land. Wenn man bösartig sein will, könnte man behaupten, dass es noch zu den Gegenden der Welt gehört, in denen man das Alter eines Menschen am Zustand seines Gebisses erkennen kann. Das Schöne an schwierigen Ländern ist aber, dass einem dort der Alltag dauernd kleine Erfolgserlebnisse beschert. Wenn man es geschafft hat, den Bus zu erwischen, der sich an keine Zeiten hält. Wenn man sein Auto an den zahllosen Geschwindigkeitskontrollen vorbeischleusen konnte, an denen die Polizisten stehen und abkassieren.

Zweifellos liegt Bulgarien in Europa, nämlich dort, wo es geboren wurde, wenn man seine Identität in der Philosophie sehen will. Wo die Thraker gelebt haben, wo Orpheus von den Pflügen erschlagen wurde, die er nicht besungen hatte, und die ihn deshalb verletzen konnten. Aber der Westen weiß nichts von diesem Land. Für die 500.000 deutschen Pauschaltouristen, die neuerdings jedes Jahr an Sonnenstrand und Goldenem Sand das Schwarze Meer belagern, bleibt es eine billige Alternative zu Mallorca. „Bis runter nach Bulgarchien, tut er die Welt beschnarchien“, hieß es in „Sing mei Sachse, sing“, einer der inoffiziellen DDR-Hymnen. Dass Bulgarien landschaftlich ein Paradies ist, werden sie kaum mitbekommen. Hier liegt der Haimos, von dem aus Alexander der Große drei Meere gesehen haben soll, Adria, Ägäis und Schwarzes Meer. In den Mittelgebirgen leben Bären, es gibt halbvergessene Klöster, tiefe Wälder, es gibt den kargen Süden, den schon Kara Ben Nemsi bereist hat, wo Weine gekeltert werden, die sich hinter den Franzosen nicht verstecken müssen. Leider erreicht uns wegen der EU-Einfuhrzölle nur der süße Kadarker von Aldi.

Für viele, die es nicht kennen, ist Bulgarien irgendsoetwas wie Rumänien, also ein exkommunistisches Land, in dem einem nur Befehle erteilt werden, selbst vom Geldautomaten. Für die Bulgaren ist der Umstand, dass ihr EU-Beitritt im Paket mit dem Rumäniens verhandelt wird, eine Schmach und eine historische Ungerechtigkeit. Der Beitritt ist momentan das wichtigste Thema. Die Verlautbarungen des EU-Erweiterungskommissars Verheugen sind Spitzenmeldungen in den Nachrichten. Virtuell gehört das Land längst dazu. Im Fernsehen bekommt man Sat.1 und RTL, amerikanische, russische, italienische und spanische Sender. Die Jugendlichen nutzen jede Gelegenheit, in den Westen zu kommen, und sei es, um in Nürnberg deutsche Kriegsgräber zu pflegen. Wenn sie können, bleiben sie. Von neun Millionen Einwohnern hat das Land seit der Wende eine Million verloren.

Europa ist wie ein Kraftfeld. Fährt man in den Osten, merkt man erst, wie sich die Blicke von hier auf uns richten. Zahnärzte werben mit „Ewrostandard“. Vor allem Deutschland genießt einen makellosen Ruf. Die Papiertaschentücher der Marke „Belinda“ erinnern an Ost-Klopapier, aber die Packung schmückt eine Deutschlandfahne. Anscheinend fördert es den Verkauf.

Der erste Schritt in die EU ist die Nato-Mitgliedschaft. Sie haben am 11. 9. für New York Blut gespendet, sie haben im Golfkrieg die Amerikaner unterstützt, sie haben sich nicht beschwert, als im Jugoslawienkrieg Nato-Bomben auf ihr Territorium fielen. Die Geldpolitik wird vom IWF gemacht, der Lew ist an die D-Mark gekoppelt. Im letzten Jahr hat man entdeckt, dass man noch vergessene SS-20-Raketen hatte. Um zur Nato-Tagung im Herbst auch nur eingeladen zu werden, hat man sie ohne Gegenleistung von amerikanischen Spezialisten vernichten lassen.

Tatsächlich gehört das Land zu den stabilen Regionen auf dem Balkan, viele sehen darin angesichts des Konfliktpotenzials ein Wunder. Die Hoffnungen beschämen einen fast. Und manchmal schämt man sich als Westler. In Sofia gibt es 30.000 streunende Hunde, oft fallen sie kleine Kinder an. Viele hatten sich zur Wendezeit einen Hund als Statussymbol zugelegt und dann, als die Krise kam, das Futter nicht mehr bezahlen können. Als der Papst zu Besuch kam, hat man versucht, die Hunde einzuschläfern. Die Frau des deutschen Botschafters fand das inhuman und sammelte Geld, um die Tiere freizukaufen. Vielleicht gibt es in Sofia dank den deutschen Tierschützern bald Hunde, denen es besser geht als ihren Besitzern.

Die Hunde stehen ganz unten, dicht gefolgt von den Zigeunern. „Ihr Deutschen redet immer über die Zigeuner, dabei könnt ihr euch bei Hitler bedanken, dass er euch von diesem Problem befreit hat.“ Das kann man von jedem hören, egal ob Intellektueller, Student oder Arbeiter. Die Zigeuner, die Juden, die Türken, die Mafia, immer liegt die Schuld bei den anderen. „Ewreite w gasowite kameri“ („Juden in die Gaskammern“) steht am Musikpavillon in der Borisowa Gradina; niemand übermalt den Spruch.

Der nationale Gründungsmythos ist das so genannte 500-jährige türkische Joch. Niemand zweifelt hier daran, dass die Türken die Schuld an der historischen Verspätung Bulgariens tragen. Denn ursprünglich war dieses Volk – das offiziell auf den rätselhaften, aus dem Kaukasus eingewanderten Stamm der „Protobulgaren“ zurückgeht, weder slawischen noch romanischen Bluts – kriegerisch und hoch entwickelt; das Königreich von Khan Asparuch war angeblich schon im 7. Jahrhundert die erste europäische Nation. Die kyrillische Schrift wurde von bulgarischen Mönchen erfunden. Dann kamen 500 Jahre Isolation, in denen man von der europäischen Entwicklung abgeschnitten war und von faulenzenden Paschas beherrscht wurde, die einem die Kinder klauten. Erst 1878 wurde man von den Russen befreit, womit sich die nach wie vor relativ freundliche Einstellung zu Russland erklärt. Für ihr Leid wurden die Bulgaren von Bismarck auch noch mit Gebietseinbußen bestraft, sonst würde das Land heute bis zur Ägäis reichen und im Westen natürlich Mazedonien einschließen, ein Land, in dem Bulgarisch gesprochen wird.

Dass man die Herrschaft der Osmanen differenzierter sehen muss, dass die Balkanvölker kulturell mehr miteinander zu tun haben, als sie wollen, kann man in deutschen Publikationen nachlesen. Man könnte sogar von einer Balkanidentität sprechen, wenn sich die einzelnen Nationen nicht so vehement dagegen wehren würden. Jedem Laien fallen Eigenheiten in Sprache, Musik, Tracht und Essen auf. Nur die Bulgaren selbst streiten jeden türkischen Einfluss ab (obwohl schon der Wortschatz reich daran ist), und die Rumänen sind für sie Zigeuner.

Manchmal wird es schon komisch. Als es im letzten Jahr bei Asenovgrad in den Rhodopen zu starken Regenfällen kam, suchte man die Schuld bei den Muslimen. Sie hatten Schafe und Kälber geschlachtet und in großen Töpfen gekocht, um Allah um Regen zu bitten. Offenbar hatten sie es damit übertrieben. Der Bürgermeister ließ weitere Tieropfer verbieten.

Bulgarien war bis zum Zweiten Weltkrieg ein Agrarland, dem von den Kommunisten Schwerindustrie und Chemie aufgezwungen wurden. Fabrikruinen aus dieser Zeit sieht man immer noch überall. Es gab Lager wie auf der Donauinsel Belene, wo gefoltert wurde, wo bei Überschwemmungen niemand überlebt hat. Das zaghafte intellektuelle Leben ist so nachhaltig ausgeschaltet worden, dass die Kommunisten zur Wende vor dem Problem standen, gar keine Dissidenten zu haben, wie sollte man also Demokratie spielen? Man brauchte aber seine Marionetten, um in Ruhe das Land verscherbeln zu können. Es heißt, dass die Stasi selbst die letzten bekannten Verfolgten überreden musste, Parteien zu gründen. Während sich dann die Regierungen abwechselten, sind 24 Milliarden Dollar ins Ausland geflossen, das doppelte der heutigen Auslandsschulden.

Es hat keine wirkliche Revolution gegeben. Wenn man die Analyse von Ilija Trojanow in „Hundezeiten“ liest, dann erscheint einem die deutsche Treuhand als historischer Glücksfall. In Bulgarien wurde von Partei und Stasi alles verscherbelt, was nicht niet- und nagelfest war. Niemand glaubt mehr an die Politik. Die letzte Hoffnung war noch der Zar, weil er angeblich gute Wirtschaftskontakte im Westen hatte und als Patriot galt. Inzwischen wird er für sein altmodisches Bulgarisch belächelt; und weil er es nicht geschafft hat, wie versprochen in 800 Tagen alle reich zu machen, wird er bei der nächsten Wahl gehen müssen.

Es gibt hier viel Aberglaube und einen seltsamen Totenkult. An jeder Tür hängen kopierte Todesanzeigen. Oft erinnern sie an einen vor 30, ja 40 Jahren Verstorbenen. Dafür gibt es kein Interesse an der Vergangenheit. Die Opfer des Kommunismus können sich ärgern, dass sie wegen ihrer Dummheit mit einer kargen Rente auskommen müssen, die ihnen von ihren ehemaligen Peinigern zugestanden wird. Die Jugend richtet den Blick nach vorne, nach Europa und Amerika. Im historischen Museum, das inzwischen in eine der vielen Residenzen von Schiwkow gezogen ist, einem Palast, dessen sozialistischer Chic bei uns längst Kult wäre, erfährt man viel über die Kultur der Thraker. Man kann auch in einem Schaukasten das Glasauge eines 1925 ermordeten Dichters bewundern, die Zeit nach 1947 fehlt dagegen völlig.

Dafür stehen in jedem Dorf Skulpturen aus der sozialistischen Zeit. Oft begrüßt einen am Ortseingang eine Stele im Bauhausstil. Aber diese Zeugnisse werden nicht gepflegt, was einen als Touristen zum Entdecker macht: auf die eigentlichen Schönheiten weist kein Schild hin. Aber es tut einem in der Seele weh, dass all das verfallen wird und es niemanden kümmert.

Ein herrliches Land. In jedem Café wird man von einer Miss World bedient. Man erfährt von Mädchen, die sich schon in der Schulzeit den Schlüpfer für die Hochzeitsnacht kaufen. Es gibt zwei Fernsehkanäle für „Pop-Folk“, einer Art billig produzierter Bumsmusik, die entfernt an Balkanklänge erinnert. Den ganzen Tag laufen diese Videos im Fernsehen, ein Mann, der auf einem Laster mit Bierkisten sitzt und singt: „Zeit für ein Bier, Zeit für ein Bier“. Eine Gruppe schwer bewaffneter Frauen lauert ihm auf, kidnappt und fesselt ihn, während er immer noch singt: „Zeit für ein Glas Bier“. Das sind die Lieder für Männer, bei den Liedern für Frauen singt eine Frau: „Ich bin das Reh, du bist der Jäger, erschieß mich doch mit deiner langen Flinte“. Wer sich von dieser Kultur abgrenzen will, hört MTV und geht zu McDonald’s. Distinktionsgewinne sichert nicht Rockmusik, sondern Ricky Martin. Man braucht lange, das zu begreifen.

Irgendwann wird die Bombe platzen, und jemand wird das enorme Potenzial an Geschichten entdecken, das es hier gibt. Im Moment ist noch kein Gogol zu sehen. Schriftsteller gelten als Schwätzer und Hungerleider. Die Künstler befassen sich mit der mythischen Vergangenheit oder sie lyrisieren über die Natur. Die eigene Gegenwart ist zu bedrückend, niemand will das hören. Es gibt keine zupackende Ironie. Dabei ist das Material da. Dass die kommunistischen Führer, um sich bei Stalin beliebt zu machen, mit russischem Akzent gesprochen haben sollen, was für ein Stoff! Dass Christo aus Gabrowo stammt, einer Art Ostfriesland, wo es ein Museum des Humors und der Satire gibt, wenn der Westen das wüsste …

Ein herrliches Land, sagen diejenigen, die sich hergetraut haben. Ein Koschmar (Albtraum), sagen die, die hier leben müssen. Genauso ist es ja auch mit New York. Wenn man aber die Menschenmenge sieht, die sich jedes Jahr an Sommerabenden vor dem Nationaltheater die Videoaufzeichnungen von Herbert von Karajans Philharmonikern ansieht, muss man das Land lieben. Es sind vor allem alte Leute, die sich keine Konzertkarte leisten könnten. Die Gesellschaft ist zweigeteilt: die Jugend, die noch nicht von Krankheiten geplagt ist, die lernen kann und im Westen ankommen will; und die Alten, denen es schlechter geht als unter Schiwkow, die mit Personenwaagen auf der Straße stehen oder mit Schreibmaschinen vor den Ämtern sitzen – und die sich im Sommer ihre besten Sachen anziehen, um sich, weil es umsonst ist, Karajan anzusehen.