: Räte als Retter
Seit dem Scheitern des IG-Metall-Streiks gibt es ein großes Interesse an Betriebsräten – sie sollen den Weg aus dem verschrienen Flächentarif weisen. Doch das ist keine Lösung
Gewerkschafter wollten sich den Unmut im Osten zunutze machen und haben deshalb Streiks begonnen. „Sie haben sich verrechnet: Im Land herrscht Angst“, analysiert Guido Westerwelle (FDP), immer nah dran an Volkes Stimme. Den Weg aus der Krise weise die Partnerschaft, „die in deutschen Unternehmen vielfach zwischen Mitarbeitern und Betriebsleitung gepflegt wird“. Betriebsräte statt Flächentarif lautet also die Losung. Jetzt komme die Zeit der betrieblichen Arbeitnehmervertreter, stimmen viele in den Chor ein.
Bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vor zwei Jahren hatten die Betriebsräte weniger Unterstützer. Ihre Vorschläge spielten im Gesetzgebungsverfahren keine Rolle. Von den Forderungen zur Ausweitung der wirtschaftlichen Mitbestimmung blieb lediglich ein Verhandlungsanspruch zur Beschäftigungssicherung. Der Betriebsrat kann Vorschläge zum Erhalt von Arbeitsplätzen machen, eigene Konzepte vorschlagen oder Alternativen zur Ausgliederung von Betriebsteilen entwickeln. Das hat die Interessenvertretung vor Änderung des Gesetzes zwar auch schon getan. Aber jetzt besteht ein verbindlicher Anspruch auf eine schriftliche Stellungnahme des Unternehmers. Für viele Betriebsräte ist das eher ein Hohn als eine Weiterentwicklung des Gesetzes. FDP und Unternehmervertreter waren sich damals einig: Eine fortschrittliche Novellierung im Interesse der Beschäftigten wird es nicht geben. Dass der angedrohte Gang zum Bundesverfassungsgericht letztendlich ausblieb, zeigt, wie unwichtig die Änderungen waren.
Inzwischen flimmert kaum eine Sendung zum Metaller-Streikdebakel in die Wohnzimmer, ohne dass der Betriebsrat eines Großkonzerns interviewt wird. In der ersten Reihe waren interessanterweise Betriebsräte zu sehen, die den eigenen Kollegen „Krankenrückkehrgespräche“ zumuten – oder zumindest schweigen, wenn die Chefs sie durchführen. Erkrankte Mitarbeiter müssen, nachdem sie wieder gesund sind, eine Reihe von Gesprächen mit Vorgesetzten über mögliche Krankheitsursachen führen. Diese Einschüchterungsversuche führen in vielen Fällen dazu, dass Beschäftigte krank an die Arbeit gehen oder sogar bei Krankheit Urlaub nehmen. Ein Verschleppen von Erkrankungen ist oft die Folge. Doch Betriebsräte gibt es nicht nur in Großunternehmen – die Mehrzahl von ihnen arbeitet in mittelständischen Unternehmen. Welche Probleme sie haben, interessiert in dieser Debatte offensichtlich kaum.
Ein Beispiel: die Verbindlichkeit von Tarifverträgen. Den von neoliberalen Politikern geforderten Abbau der branchenweiten Regelungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften setzen Betriebsräte die Situation in den meisten Unternehmen entgegen. Von einer zunehmenden Flexibilisierung tariflicher Regeln auf betrieblicher Ebene profitieren nach Meinung der Interessenvertreter nicht die Beschäftigten, sondern die Unternehmer. 42 Prozent der Betriebsräte halten deshalb die Verbetrieblichung der Tarifpolitik für „generell problematisch“ und 38 Prozent für zumindest „zwiespältig“. Dieses Ergebnis legte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) nach einer repräsentativen Befragung vor. Das WSI, das der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung zugeordnet ist, befragte kürzlich bundesweit Betriebsräte aller Wirtschaftsbereiche.
Stattdessen fordern die befragten Arbeitnehmervertreter eine Gegenbewegung. Sie sehen sogar explizit einen Bedarf an „Rezentralisierung“: Die Hälfte der Betriebsräte wünschen sich eine stärkere Nutzung des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifnormen. Diese Forderung richtet sich direkt an die Bundesregierung. Das Wirtschafts- und Arbeitsministerium kann diese Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen für ganze Branchen veranlassen.
Der viel diskutierte Abbau des Kündigungsschutzes wird von den Praktikern abgelehnt. 47 Prozent der befragten Betriebsräte sind der Meinung, die bereits vorhandene Einschränkung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben gehe heute „schon zu weit“. Die Zunahme von Niedriglöhnen wird als Problem gesehen – vier Fünftel der Betriebsräte halten deshalb eine Flankierung der Tarifpolitik durch einen Mindestlohn für sinnvoll. Auch hier ist der Gesetzgeber gefordert, eine in vielen europäischen Ländern übliche Regelung umzusetzen.
Die Befragung zeigt auch, dass fast jeder dritte Unternehmer „Beschäftigungs- und Standortsicherungsvereinbarungen“ mit dem Abbau von Sozialleistungen verknüpft und Betriebsräten aufnötigt. Für die Interessenvertreter bleiben die „Erfolge“ bei der Sicherung der Arbeitsplätze „jedoch unklar“, so die Befragung. Viele Vereinbarungen werden zulasten der Beschäftigten abgeschlossen, da es an der fehlenden Durchsetzungskraft der Betriebsräte fehlt, vor allem infolge des Streikverbots und der gesetzlichen Pflicht zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ mit dem Arbeitgeber.
Besondere Probleme macht den Betriebsräten die verschärfte Standortkonkurrenz. Sozialabbau wird meist durch die Drohung nach Verlagerung an andere Standorte oder Ausgliederung von Betriebsteilen durchgesetzt. Diese Erpressungssituationen verstärken für betriebliche Interessenvertreter die Notwendigkeit übergreifender Vernetzung. Und diese wird in der Praxis – auch wenn der Jurist Westerwelle es anders sieht – von den Gewerkschaften organisiert. Ein Auseinanderdividieren von Gewerkschaftern und Betriebsräten ist aus Sicht der Arbeitnehmervertreter keine Lösung, sondern verschärft nur bestehende Probleme. Zumal die Beschlüsse über Streiks von Tarifkommissionen gefasst werden, in denen ehrenamtliche Mitglieder zu entscheiden haben. Meist sind dies Betriebsräte. Das Streikdebakel muss deshalb gemeinsam ausgewertet werden.
Kamingespräche der DGB-Vorstände im Kanzleramt und Nibelungentreue zur SPD lösen jedoch keine betrieblichen Probleme. Zunehmender Stress und psychische Belastungen erfordern Gegenmaßnahmen der Betriebsräte. Der Marktdruck wird direkt an die Beschäftigten weitergeleitet. Mindestens 15 Milliarden Euro werden nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz jährlich für Behandlungen arbeitsbedingter Erkrankungen ausgegeben.
Die IG Metall entwickelt ein Gegenkonzept zu diesem Trend, um die Situation am Arbeitsplatz zu humanisieren, das eine „Qualität der Arbeit“ für Beschäftigte und Betriebe sichern soll. Das neue Leitbild soll „gute Arbeit“ sein, zu der nicht nur der Zugang zu Qualifikation, sondern auch ein nachhaltiger Umgang mit der menschlichen Leistungsfähigkeit zählt. Wenn es den Gewerkschaftsvorständen gemeinsam mit den Mitgliedern und ehrenamtlichen Funktionären gelingt, diese Forderungen weiterzuentwickeln und in die Betriebe zu tragen, wird dies für jeden einzelnen Beschäftigten spürbar. Und die Frage, ob Gewerkschaften noch gebraucht werden, beantwortet sich von selbst. MARCUS SCHWARZBACH