: „Keine aufs Papier geworfene Krawall-Nummer“
Drehbuchautorin Thea Dorn über ihren neuen Tatort und die Recherche im türkisch-muslimischen Milieu. Sie glaubt, dass der Film zum Kern der Konflikte um Familienzusammen- halt, Freiheitsdrang Geschlechterverhältnis und Jungfräulichkeitskult vordringt
THEA DORN, Jahrgang 1970, ist Autorin und Publizistin. Nach Stationen am Philosophie-Institut der FU-Berlin und als Dramaturgin in Hannover hat sie sich als freischaffende Schriftstellerin – „Die neue F-Klasse“, „Die Brut“, „Hirnkönigin“ –und als Moderatorin einen Namen gemacht. „Familienaufstellung“ ist ihr zweiter Tatort für Radio Bremen, der erste, „Der Schwarze Troll“, lotete 2003 das kriminelle Potenzial des „Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms“, einer psychischen Störung, aus. FOTO: DPA
INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER
taz: Frau Dorn, ist Krimischreiben praktische Philosophie?
Thea Dorn: Für mich ist es eher das Gegenteil von Philosophie – zumindest von der Philosophie, wie ich sie betrieben habe. Ich hatte mich ja in der Philosophie von der Antike herkommend mit der Frage beschäftigt, wie der Mensch leben sollte. Und in den Krimis geht es eher darum, wie etwas dramatisch schief geht – oder salopp gesagt: Darum, wie der Mensch eben nicht leben sollte. Von daher ist es für mich immer das Gegenstück gewesen – und nicht die Anwendung.
Die Frage, woher das Böse kommt, ist aber doch eine philosophische. Schwingt die nicht immer im Krimi mit?
Das Woher? Da müssen Sie lieber eine Theologin fragen. Für mich geht es um die Fassungslosigkeit darüber, in welchen Gestalten das Böse auftritt – auch wenn ich nicht genau erklären kann, wo es herkommt. Der Krimi ist das Genre, das Bestandsaufnahmen macht, welche Gesichter und Gestalten das Böse hat.
Die Bestandsaufnahmen können in Romanen sehr feingliedrig werden. Muss man für TV-Plots auf diese Komplexität nicht verzichten?
Das würde ich so pauschal keinesfalls unterschreiben. Wenn wir über den konkreten Film reden, …
… den Radio Bremen Tatort „Familienaufstellung“ …
… erst recht nicht: In der Figur, die am Schluss von der deutschen Justiz als Täter abgeführt wird, kreuzen sich zahllose Konflikte. Das ist ein hochkomplexes Bündel. Da kann man nicht sagen: Okay, da wird ein wie auch immer Böses postuliert, das begeht grauenvolle Taten – und am Schluss machen die Handschellen Klick, worauf sich der Zuschauer einigermaßen beruhigt zurücklehnen kann. Unser Täter hat in den 90 Minuten ein deutliches Gesicht bekommen. Ich hoffe vor allem, dass uns gelungen ist, zu zeigen, welche Konflikte fast schon tragischer Natur in dieser Figur toben – die dann eben zu der Katastrophe führen.
Ihre Bücher tragen das Verbrechen normalerweise in saturierte Milieus: Professoren, Dirigenten, Talkmasterinnen …
… in meinem letzten Roman war’s ein Radprofi. Das ist nicht ganz so saturiert.
Es war aber ihr eigenes Anliegen das jetzige Milieu aufzusuchen – und diesen Tatort zu schreiben?
Absolut. Ich bin schon seit Jahren mit Seyran Ates eng befreundet. Sonst hätten wir das nicht zusammen machen können. Und Seyran sagte schon lange, bevor man sich traute, an dieses Thema heranzugehen: Mensch, Thea, du hast doch schon einmal einen Tatort geschrieben – das wäre doch ein Thema par excellence. Im Frühsommer des Jahres 2006 war der Stoff dann sozusagen reif für mich – oder ich für den Stoff, wie Sie wollen. Und dann habe ich mit Radio Bremen wieder Kontakt aufgenommen, der Sender, für den ich bereits meinen ersten Tatort geschrieben hatte.
Die Geschichte greift Motive eines Berliner Falls auf, des so genannten Ehrenmordes …
… der sich wieder einmal jährt: Am 7. Februar ist der vierte Todestag von Hatun Sürücü, am 8. Februar wird unser Film ausgestrahlt.
Dass sich das entsprechende Milieu in Berlin und Bremen ähnelt …
… davon kann man ausgehen. Es gab auch in Bremen Ehrenmordfälle, zwei Fälle wenigstens sind mir aus Polizeiberichten bekannt.
Es stellt sich allerdings die Frage nach den Ermittlern: Ist es eigentlich angenehm, einen so beschränkten und recht abgegriffenen Charakter wie Inga Lürsen agieren zu lassen?
Oh, da gehen Sie mit der armen Inga Lürsen aber streng ins Gericht. Ich mag die Figur! Inga hat starke Überzeugungen, die in dieser Geschichte eben zum Ausdruck kommen. Als Autor bekommt man – bevor man sich an das Drehbuch setzt – die fiktiven Biografien der Kommissare ausgehändigt, aus denen man erfährt, was die in ihrer Jugend so getrieben haben. Und Inga kann auf eine relativ stramm frauenbewegte Vergangenheit zurückblicken. So gesehen ist es völlig plausibel, dass es ihr nicht passt, wenn sie in eine Familie kommt, in der das Patriarchat zumindest so tut, als würde es noch unangefochten funktionieren. Aber dass sie fahrlässig ermitteln würde, weil sie sich zu schnell in eine Richtung einschösse, kann man ihr wahrlich nicht vorwerfen. Und natürlich – wir haben ja die beiden Ermittler – war es für die Dynamik wichtig, dass ihr männlicher Kollege Stedefreund eher auf die Bremse tritt, und sagt: „Komm, jetzt mach mal halblang – hast du nicht vielleicht das eine oder andere feministische Vorurteil im Kopf.“ Das ist ja genau sein Text.
Dass die Figur Lürsen so vertraut ist, könnte natürlich auch ein Vorteil sein. Sie können sich mehr auf die Schilderung des Milieus konzentrieren und die Kommissarin ein bisschen vernachlässigen.
Ich habe keine Sekunde den Eindruck, dass ich Inga im Drehbuch vernachlässige – im Gegenteil. Von meinen bisherigen Testguckern, die verschiedene Inga-Lürsen-Tatorte kennen, habe ich oft gehört: „Wie wunderbar, dass Inga endlich mal wieder sarkastischer, schärfer sein darf!“
Wie haben Sie im türkisch-muslimischen Milieu recherchiert?
Seyran hat mich zu verschiedenen Hochzeiten und Henna-Nächten mitgenommen, ich habe Zeit mit ihrer Großfamilie verbracht, wir waren im Hamam und sind durch Kreuzberg gezogen. Fast zweieinhalb Jahre haben wir – natürlich mit Unterbrechungen – an dem Buch gesessen, bevor der Film gedreht wurde. Abgesehen davon, dass ich für all meine Bücher ausgiebigst recherchiere, war ich diesem Thema eine besondere Gründlichkeit schuldig. Das war auch einer der Gründe, warum ich mich abermals für Radio Bremen entschieden habe: Ich wollte als Autorin nicht gezwungen sein, einen Schnellschuss abzuliefern. Wie wir am Beispiel des NDR-Ehrenmord-Tatorts gesehen haben, der im Dezember 2007 für so große Aufregung in der alevitischen Community gesorgt hat, ist es heikel, wenn diese ausführliche Vorarbeit zu kurz kommt.
Solche Proteste hatten vor einem Jahr, Ihr Film war gerade abgedreht, Bremer Lokalmedien fest eingeplant. Bislang sind sie ausgeblieben. War die Erwartung einfach abwegig?
Ich glaube, dass sie überzogen war. Das Drehbuch ist keine mit giftiger oder schludriger Feder aufs Papier geworfene Krawall-Nummer. Und die ersten Rückmeldungen, die ich nach diversen Voraufführungen von türkischstämmigen Zuschauern bekommen habe, bestärken mich in meiner Überzeugung, dass der Film tatsächlich zum Kern der Konflikte um Familienzusammenhalt, Freiheitsdrang, Geschlechterverhältnis und Jungfräulichkeitskult vordringt.
Also keine Aufregung?
Natürlich wird es Personen geben, denen der Film nicht passt. Sowohl in konservativen muslimischen Kreisen als auch bei Multi-Kulti-Anhängern. Aber mit denen wollen Seyran und ich die Auseinandersetzung auch gezielt suchen. Ich hoffe, dass die Zeit der echten Auseinandersetzung beginnt, und die Zeit der Hysterien à la Karikaturen-Streit oder anlässlich von TV-Filmen wie „Wut“ vorbei ist. Außerdem ist unser Film nicht der erste Tatort, der mehr oder weniger ausschließlich im türkischen Milieu spielt, bei dem auch Türken als Täter in Frage kommen.
Ist diese Häufung von „Türken“-Tatorten denn nicht gerade ein Problem?
Wieso? Über viele Jahre hat sich das deutsche Fernsehen an dieses Thema nicht herangewagt. Obwohl allein seit dem Jahr 2000 in Deutschland mindestens 50 Morde begangen worden sind, bei denen das Tatmotiv mit der vermeintlich verletzten „Ehre“ der Familie zu tun hatte. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Das eigentliche Problem ist also die langjährige Tabuisierung. Erst der Fall Sürücü mit seiner extrem großen öffentlichen Aufmerksamkeit hat diese Blockade gelöst. Und das halte ich für einen Fortschritt. Denn eigentlich war immer Verlass darauf, dass sich der Tatort – von Kindesmissbrauch bis Gewalt gegen Ausländer – eines Verbrechens annimmt, in dem sich Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft exzessiv verdichten.
Tatort „Familienaufstellung“: Sonntag, 20.15 Uhr in der ARD