: Opfer des Reformfiebers
Die neoklassische Ökonomie ist sich einig: Es wird in Deutschland zu wenig für zu viel Geld gearbeitet. Das ist falsch. Der internationale Vergleich belegt das Gegenteil
Deutschland im Reformfieber. Der veröffentlichten Meinung folgend, hängt das Schicksal dieser Republik an den so genannten Arbeitsmarktreformen. Im Mittelpunkt stehen aktuell die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung. Wird aus Hartz IV, dem Kernstück der „Arbeitsmarktreformen“, ein beschäftigungspolitischer Befreiungsschlag? Oder, auf den Punkt gebracht: Ist das ökonomische Kernproblem wirklich Regulierung und Preis der Arbeitskraft?
Die herrschende wirtschaftsliberale Diagnose ist eindeutig: Die verkrusteten Institutionen des Arbeitsmarkts und Sozialstaats haben verhindert, dass die Unternehmen den Preis der Ware Arbeit senken konnten, um auf die Herausforderungen der „Globalisierung“ und des technischen Fortschritts zu reagieren. Zu hohe Arbeitskosten und eine falsche Lohnstruktur führen zu niedrigen Wachstumsraten und steigender Arbeitslosigkeit.
Diese Analyse wird heute fast uneingeschränkt geteilt – von allen führenden internationalen Institutionen, der wissenschaftlichen Politikberatung sowie der Mehrheit des politischen Establishments und der Medien. Auf diesem ideologischen Fundament entstanden das Hartz-Reformpaket und die Agenda 2010. Kritik daran galt schlicht als indiskutabel. So befindet sich die deutsche ökonomische Zunft inzwischen in einem solch verwahrlosten Zustand, dass jeder neoklassische Ökonom behaupten kann, was er will, ohne seine Aussagen empirisch belegen zu müssen. Getreu dem Motto „Wenn eine These nur oft genug wiederholt wird, wird sie wohl stimmen.“
Wir beginnen unsere Reise durch die neoklassische Vulgärökonomie auf dem verkrusteten deutschen Arbeitsmarkt. Und zwar bei der beliebtesten These: Ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad, das Tarifkartell, das hohe Niveau und der lange Bezugszeitraum von Arbeitslosengeld und -hilfe, ein rigider Kündigungsschutz sowie hohe Steuern und Sozialabgaben treiben die Arbeitslosigkeit in Schwindel erregende Höhen.
Was zunächst überzeugend klingt, wird auch durch gebetsmühlenartige Wiederholung nicht richtiger. Die Autoren ignorieren die gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten 25 Jahre: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad wurde geringer, die Tarifbindung gelockert, das Niveau der Lohnersatzleistungen gesenkt, der Kündigungsschutz abgebaut. Zugleich nahm die Arbeitslosigkeit zu.
Währenddessen hatten die Forschungs- und Entwicklungszentren der „sozialen Hängematte“, namentlich die sozialdemokratischen Volksheime Österreich, Dänemark und Schweden, eine deutlich bessere Arbeitsmarktentwicklung vorzuweisen. Die Geschichte vom wachstums- und beschäftigungsfeindlichen Wohlfahrtsstaat besteht also bis heute nicht den Praxistest.
Ebenso populär ist These II: Die Arbeit am Produktionsstandort Deutschland ist zu teuer. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft sorgt jährlich für deren Bestätigung. Ein verschrecktes Publikum nimmt dann zur Kenntnis, dass der Stundenlohn westdeutscher Industriearbeiter mit aktuell 26,36 Euro nur noch vom reichen Ölexporteur Norwegen übertroffen wird. Ohne Zweifel sind die Kosten der Ware Arbeitskraft ein wichtiger Indikator zur Bestimmung der Wettbewerbsfähigkeit einer Nationalökonomie. Äußerst umstritten ist allerdings ihre methodische Erfassung. Ein internationaler Vergleich des Stundenlohns von Industriearbeitern lässt die höchst unterschiedlichen nationalen Qualifikationsprofile und Produktionsstrukturen unberücksichtigt.
Untersuchen wir hingegen nicht nur die absoluten Arbeitskosten einer einzelnen Branche, sondern gleich der Gesamtwirtschaft, dann befindet sich Deutschland plötzlich nur noch im Mittelfeld. So viel nur zum schönen Thema Statistik.
Statistisch unumstritten ist dagegen die Flaute deutscher Löhne seit Mitte der 90er-Jahre. Unter den führenden OECD-Staaten fiel nur in Japan das Wachstum der Nominallöhne geringer aus als in Deutschland. Dieser Trend spiegelt sich auch in der Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten wider, einer der wichtigsten Kennziffern für den Vergleich im internationalen Preiswettbewerb.
Betrachten wir das Verhältnis von Arbeitskosten- und Produktivitätsentwicklung (Lohnstückkosten), so hat seit 1995 Deutschland die nach Japan geringste Zunahme zu verzeichnen. Aufgeklärte Vertreter der Mainstreamökonomie bewerten diesen Trend als notwendige Anpassung an den globalen Wettbewerb und ignorieren die Schattenseite eines Konkurrenzvorsprungs, der durch Lohnzurückhaltung erzielt wird: die Schwäche der Binnennachfrage.
Wenn also auch die hohen Arbeitskosten nicht für die Krise der deutschen Volkswirtschaft verantwortlich gemacht werden können, dann bleibt nur noch die falsche Lohnstruktur. Schließlich zeige der internationale Vergleich: Hierzulande seien viel mehr gering Qualifizierte arbeitslos, da die relativ geringe Lohnspreizung unzureichend sei. Einfache Arbeit ist in Deutschland zu teuer.
Hier haben wir These III, einen weiteren Kassenschlager aus der ökonomischen Märchenwelt, der sich aktuell in Gestalt der Niedriglohndebatte großer Popularität erfreut. Aber auch in diesem Fall will sich die ökonomische Realität nicht der neoklassischen Theorie anpassen. In den liberalen Musterstaaten USA und Großbritannien hat die Ungleichheit in der Lohnverteilung seit Anfang der 80er-Jahre deutlich zugenommen. Diese Nationen haben auch heute noch die stärkste Lohnspreizung unter den OECD-Staaten.
Die egalitärste Lohn- und Einkommensverteilung finden wir in Skandinavien. Aber ausgerechnet in den regulierungswütigen Ländern Dänemark und Schweden ist die Arbeitslosigkeit gering Qualifizierter niedriger als auf den flexiblen angelsächsischen Arbeitsmärkten. Zudem zeigt ein Vergleich relativer Arbeitslosenquoten, dass gering Qualifizierte in den USA und Großbritannien 4-mal so oft von Arbeitslosigkeit betroffen sind wie hoch Qualifizierte. In Deutschland (3,2), Schweden (2,3) und Dänemark (1,6) lag das „relative Arbeitslosigkeitsrisiko“ gering Qualifizierter deutlich darunter.
Nach Prüfung der neoklassischen Thesen stellt sich die Frage nach den politischen Konsequenzen. Wenn weder Arbeitsmarktinstitutionen, Lohnhöhe noch Lohnstruktur widerspruchsfrei Niveau und Trend der Massenarbeitslosigkeit erklären können, werden auch die abgeleiteten Politikempfehlungen äußerst fragwürdig. Wir können zwar, wie Merkel, Stoiber und Westerwelle es empfehlen, die Dosis der verabreichten Medizin erhöhen bei gleichzeitiger Verlängerung der Behandlungsdauer. Besser ist es aber, schlicht den Arzt zu wechseln.
Richtig wäre eine Therapie, die endlich berücksichtigt, dass Wachstum und Beschäftigung nicht auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Die Reform des Arbeitsmarkts löst nicht die Krise desselben. DIERK HIRSCHEL