: Mutter kommt mir nicht ins Heim
AUS KÖLN CHRISTIAN SYWOTTEK
Alles sitzt. Die Mutter singt. Sie tanzt und hebt die Arme in die Luft, die Ärmel ihres sandfarbenen Pullovers wehen. Sie dreht sich, im Takt der Blaskapelle, im Musiksaal des Pflegeheims. Die Augen der Mutter blicken in die Kamera und zugleich durch sie hindurch. Die Mutter ist der Welt entrückt. Sie hat sie längst vergessen.
Die Tochter hält das Foto in der Hand. Vor einem halben Jahr hat sie es aufgenommen. „Wenn ich dieses Bild sehe …“, Gabriela Schneider zögert, „es ist so unwürdig.“ Wie die Mutter verfällt. Wie sich so gar nichts tun lässt. Dabei hat die Tochter lange Zeit alles versucht. Die Tochter kann diese Zeit nicht vergessen.
Denn diese Zeit hat Gabriela Schneider zum Psychologen getrieben, in den Magenschmerz beim Aufstehen, in die Tränen beim Zubettgehen, in den Zusammenbruch nach eineinhalb Jahren, zur bitteren Erkenntnis, dass sie es nicht schafft, ihre Alzheimer-kranke Mutter zu pflegen. Und schließlich zur Entscheidung, ihre Mutter ins Pflegeheim zu geben.
Pflegen oder nicht, diese Frage muss sich jeder allein beantworten. Die Schneiders haben ihre Entscheidung schnell getroffen. Ein halbes Jahr nach der Alzheimer-Diagnose, im Juni 2001, war klar, dass die 72-jährige Mutter nicht mehr allein wohnen konnte. Gabriela Schneider schaute sich Pflegeheime an. Danach stand fest: „Die Mutter gehört nach Hause.“
Heute sitzt Gabriela Schneider, 49, im sechsten Stock eines Hochhauses im Kölner Westen, am mächtigen Wohnzimmertisch. Kurze, dunkle Haare, sonnengelbe Hose, ebenso der Pullover. „Ich habe mich zuerst gefreut“, sagt Gabriela Schneider. Sie dachte, sie könnten sie versorgen, wie in einer Großfamilie.
„Ich habe mich mein Lebtag nach meiner Mutter gesehnt“, sagt Gabriela Schneider, „als Kind bin ich ständig hinter ihr hergerannt. Meine Mutter war immer einen Schritt voraus.“ Gabriela Schneider legt Fotos auf den Tisch aus den gesunden Zeiten. Eine elegante Frau in den 50ern, die blonden Haare sorgsam frisiert, der blaue Ohrschmuck passend zum blauen Kleid. Die Frau auf dem Foto lächelt, die Augen blicken stolz, der Kopf ruht elegant am aufgestützten Arm. Der Rücken ist gerade. „Meine Mutter gab sich nie eine Blöße“, sagt die Tochter. „Hin und wieder hat sie mich auch in den Arm genommen.“ Gereicht hat es nicht, das wird schnell klar.
Im Juli 2001 zieht die Mutter in eine Wohnung in Gabriela Schneiders Wohnhaus, drei Stockwerke drunter. Sie kann laufen, ins Café gehen. Doch ein Glas Wasser eingießen, das schafft sie nicht. Sie verwechselt Messer und Gabel. Ihre Kleider zieht sie verkehrt herum an, auch waschen kann sie sich nicht mehr. Sie vergisst es. Oft steht sie aufgelöst auf dem Balkon, mitunter nackt. „Suuuper“ ist ihr Lieblingswort.
„Ich war so naiv zu glauben, dass ihre Freunde helfen werden“, erinnert sich Gabriela Schneider. Niemand hilft. „Wir müssen uns damit arrangieren“, sagt Wolfgang Schneider. Doch da weiß das Paar schon: „Es wird einen Zeitpunkt geben, ab dem wir es nicht mehr schaffen.“ Gabriela Schneider denkt: „Wenn sie ein Pflegefall wird, dann ist Schluss.“ Pflegefall, glaubt sie damals, das ist jemand, der bettlägerig ist.
Die Mutter schläft durch, so sind wenigstens die Nächte gerettet. Doch der Tag wird zum Marathonlauf. „Ich hatte jeden Morgen schon beim Aufwachen nasse Hände und Magenschmerzen“, erinnert sich Gabriela Schneider. Sie knispelt mit den Fingern, während sie erzählt, sie friert. Schließlich rinnen die Tränen. Nach fünf Minuten kann sie weitersprechen, von damals. „Ein Kind kann man mit ins Bett nehmen“, hebt sie wieder an, „aber die Mutter …“
Sie holt sie aus dem Bett. Beim Waschen muss sie Schamgrenzen überwinden und beim Einsetzen des Gebisses ein Gefühl des Ekels. Sie muss den Widerstand der Mutter aushalten, wenn sie sich wehrt gegen die Hände an ihrem Körper und ihrer Tochter das Gebiss ins Gesicht wirft. Und sie muss ihre eigene Panik aushalten davor, dass genau das passiert.
Während sie das Frühstück bereitet, schimpft die Mutter leise vor sich hin. Gabriela Schneider stellt dann das Radio ein wenig lauter. Den Schmerz in ihrem Innern kann sie nicht übertönen. „Diese Gehässigkeit war unglaublich, wie Abscheu.“
Weiter geht der Tag, der nächste schließt sich an. Das Bett machen, die Zeitung reichen. Kaum wagt sie, die Mutter für eine Stunde allein zu lassen, denn sie streift unruhig durch die Wohnung, zieht sich zwei Hosen gleichzeitig an, räumt Schränke aus, bekommt Angst. Die Mutter sieht gern fern, „Traumschiff“ und Musiksendungen. Was menschliche Beziehungen ausmacht, bleibt fern. Gespräche, Gedanken, Zuspruch. Wie soll jemand den anderen verstehen, wenn er sich selbst nicht mehr begreift? Wie soll Gabriela Schneider ihre Mutter verstehen, wenn sie nicht weiß, was Wahn ist und was Wirklichkeit?
Es ist ein Leben in Habachtstellung. Hängt Gabriela Schneider die Wäsche auf, hängt ihre Mutter sie wieder ab. Macht sie den Mülleimer auf, muss sie feststellen, dass ihre Mutter den Eimer mit der Toilette verwechselt hat. Richtet sie die Kissen auf dem Sofa, findet sie dahinter ein zermatschtes Spiegelei. „Es war ein Albtraum“, sagt sie, „es war nie zu Ende.“
Dabei hat Gabriela Schneider noch Glück. Ihr Mann hilft, bringt das Essen, baut Bewegungsmelder ein für das Licht in Mutters Bad. Spätabends hört er seiner Frau zu. Nur so hält sie durch. Die Kraft reicht trotzdem nur für drei Monate. Dann geht Gabriela Schneider zu einem Psychologen. Sie sieht keinen Anfang, kein Ende, kein Ziel. Sie weiß, dass es nicht die Mutter ist, die ihr das Leben schwer macht, sondern deren Krankheit. Aber was nützt das im Alltag? „Ich wusste nicht einmal, was ich fragen soll. Ich wollte nur, dass mir einer die Mutter abnimmt.“
Doch sie gibt sie nicht ab. Noch nicht. Heute sagt sie: „Es ist ein Schleichen. Man rutscht immer tiefer, wie auf einer schiefen Ebene. Man glaubt, morgen wird’s besser.“ Es fehlt ja schon die Zeit zum Nachdenken. Sie will nicht nur verwahren. Sie organisiert schlesische Gurken, Würstchen und Senf in der Hoffnung, dass sich die Mutter an die Zeit erinnert, als dies eines ihrer Leibgerichte war. Sie besorgt sich die Texte von Volksliedern, die ihre Mutter gern singt, um mitsingen zu können.
Sie drückt ihrer Mutter Strickzeug in die Hände. Die Mutter sagt: „Ich glaube, ich habe vergessen, wie das geht.“ Ein lichter Moment, ein wahres Wort, Gabriela Schneider schöpft Hoffnung. Am nächsten Tag dämmert die Mutter wieder vor sich hin. „Es war so enttäuschend“, sagt die Tochter, „man kann sich nicht frei machen von Erwartungen.“
Sie schöpft Kraft aus den schönen Momenten, die es trotz allem gibt. Wenn die Katze den Pudding wegfrisst und sie mit ihrer Mutter in Lachen ausbricht. Wenn die Mutter morgens lächelt. Auf den Ausflügen mit dem Auto, wenn die Mutter ruhig schaut. Wenn sie im Einkaufscenter Kleider finden, die der Mutter gefallen. Wenn sie beim Wäscheaufhängen sagt: „Warte, Gabi, ich helfe dir.“
Doch längst gibt es kein Leben mehr neben der Pflege, keine Freunde, keine Zeit für sich. Sie merkt, wie sich die gemeinsame Lebensgeschichte nach und nach in die Zeit der Pflege drängt, wie diese Pflege alles andere überlagert. Sie kann nicht so verzeihen, wie sie gerne möchte.
Als sie Wolfgang im Dezember 2001 heiratet, drängt sich die Mutter beim Sektempfang in den Mittelpunkt, lacht gekünstelt, reißt das Fest an sich. „Da kam mir die Galle hoch“, erinnert sich Gabriela Schneider, „sie funkte mir einfach dazwischen. So war das immer.“
Als sie die schmutzige Toilette reinigt, hört sie ihre Mutter wispern: „Die Gabi muss man totschlagen, totschlagen.“ Gabriela Schneider erinnert sich genau: „Ich hätte ihr ins Gesicht schlagen können. Ich dachte, da kommt hoch, was sie schon immer über mich gedacht hat.“ Niemand lässt sich verantwortlich machen. Wer weiß schon, was die Mutter noch von dem versteht und meint, was sie so sagt. Gabriela Schneider muss Wut und Schmerz mit sich selbst ausmachen. Sie weiß, dass Aggressionen normal sind. Ja und?
„Hätten wir sie bloß nicht am Hals!“, denkt sie im einen Moment. „Wir schaffen das schon“, glaubt sie im nächsten Augenblick. Die Mutter baut ab. Gabriela Schneider fröstelt oft.
Es dauert 16 Monate, bis klar ist, dass sie es nicht schaffen wird. Es passiert plötzlich ganz schnell. Als Gabriela Schneider an einem Tag im Oktober 2002 ihrer Mutter das Kleid aufknöpft, geht die Mutter ihr plötzlich an die Kehle und tritt ihr gegen das Knie. Sie fällt aufs Bett, rappelt sich auf und flüchtet aus der Wohnung. Sie weint und weint, bekommt schlagartig Fieber. Wenn der Verstand keine Grenze zieht, tut es der Körper. Ihr Mann sagt am Abend: „Jetzt geht es nicht mehr.“ Sie hat dem wenig entgegenzusetzen.
Kurz vor dem Umzug ins Heim näht sie Namensschildchen in Mutters Garderobe. „Wie ein Schwein“ sei sie sich vorgekommen, sagt Gabriela Schneider, und auch jetzt am Wohnzimmertisch kann sie die Tränen nicht unterdrücken.
Warum hat sie so lange gezögert mit dem Heim? „Das hat nichts mit Verstand zu tun.“ Sie denkt an die anderen Pflegenden, und sie weiß: „Keiner trifft diese Entscheidung früh genug. Sie sind wie Alkoholiker. Sie glauben, sie hätten es noch im Griff.“
Die Mutter zu sehen fällt ihr auch heute nicht leicht. „Ich bin wie der Hund, der sich an der Leine sträubt“, sagt die Tochter. „Und zugleich bin ich derjenige, der an der Leine zerrt.“
Gabriela Schneider überlegt, die Mutter zurück nach Köln zu holen, in ein Heim ganz in ihrer Nähe. „Für meinen Seelenfrieden will ich sie öfter sehen.“ Sie selbst wird sich nicht von ihrer Tochter pflegen lassen.