: Hatschi! Und jetzt?
Der Mitmensch niest und keiner weiß, was zu tun ist. „Gesundheit“ wünschen geht schließlich nicht mehr
„Manieren sind das Parfum, das uns vergessen lässt, dass wir stinken“ schreibt Prinz Asfa-Wossen Asserate in seinem Bestseller „Manieren“. Allerdings unterliegen auch Anstandsregeln dem Wertewandel: Wer fürderhin seinem niesenden Gegenüber von Herzen „Gesundheit“ wünscht, stellt sich ins gesellschaftliche Abseits oder erweckt – schlimmer noch – den Eindruck, kleinbürgerlicher Herkunft zu sein. Das gibt Minuspunkte in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die de facto fast nur noch aus Kleinbürgern besteht.
Nur im trauten Familienkreis ist das „Gesundheit“-Wünschen noch erlaubt, in der Öffentlichkeit geht der Trend zum höflichen Überhören des unfreiwilligen Körpergeräuschs. Der Nieser erleidet damit das gleiche Schicksal wie das Magengrummeln oder der Furz, er verschwindet im Parfumnebel der Etikette. Dort gehört er auch hin, wenn man der unlängst im SZ-Magazin verbreiteten Theorie folgt, dass es sich beim Nieser um einen „Mini-Orgasmus“ handele. Die öffentliche Kommentierung derlei intimer körperlicher Vorgänge verbietet sich schließlich von selbst.
Laut Agnes Jarosch (28), Chefredakteurin von Stil & Etikette, fühle sich der Niesende bereits als Störenfried, ein „Gesundheit“ würde ihn in diesem Gefühl noch bestärken. Zudem habe die Zahl der Allergiker stark zugenommen: Ein dröhnendes „Gesundheit!“ könne in deren Ohren möglicherweise ironisch nachklingen. Es ist nicht mehr unhöflich, nicht „Gesundheit“ zu wünschen, im Gegenteil: Im Zweifelsfall ist der Störenfried verpflichtet, sich zu entschuldigen.
Manieren sind längst nicht mehr nur ein Schmiermittel des Zusammenlebens, in der Wirtschaft gelten sie als Teil der „sozialen Kompetenz“. Arm dran sind die von Globalisierung und nationalem Niedergang schon genug geplagten Kinder der 68er, hatten diese doch das gute Benehmen einfach abgeschafft. Aufgewachsen mit den Ellenbogen auf dem Mittagstisch, steht nun eine Nachwuchs-Elite auf der Matte, die für teuer Geld Knigge-Seminare besuchen muss, um sich das nötige Know-how zu erwerben. Was also tun, wenn der Personalchef von McKinsey beim Vorstellungsgespräch eruptiv auf die Schreibtischplatte sekretiert? Höflich ignorieren, schließlich hat der Mann auch Gefühle.
Entstanden ist der Brauch, sich „Gesundheit“ zu wünschen, übrigens zu Zeiten der Pest. Das Niesen galt als Beginn der Krankheit, die es mit einem „Bewahr Gott“ oder „Gesundheit“ abzuwehren galt. Vielleicht erlebt der gute, alte, kleinbürgerliche Brauch bei der nächsten asiatischen Geflügelgrippe ja eine Renaissance. MARTIN REICHERT