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Archiv-Artikel

… für zu leicht befunden

betr.: „Das Abendland ist in Gefahr“, taz vom 1. 7. 04

Vielen Dank für den wunderschönen Leitartikel in altdeutscher Schrift. Es ist schön, diesen Schriftsatz, der nicht nur von Uhus (unter hundert) entziffert werden kann, gelegentlich auch einmal in einer Tageszeitung anzutreffen. Nur die Inkonsistenz der Überschrift störte das Erscheinungsbild etwas. Auf jeden Fall mal wieder eine taz zum Aufheben. HAGEN KÜHNEL, Burgkirchen

Jan Feddersens exzellenten Kommentar als Aufmacher des Tages zu präsentieren, das ist nicht nur taz-typisch originell, sondern auch die einzig angemessene Reaktion auf christdemokratische und christsoziale Empörung angesichts der jüngsten Gesetzesinitiativen von Rot-Grün. […] UWE TÜNNERMANN, Lemgo

Soll man auf einen Artikel, der nur ironisiert und letztlich nichts aussagt, ernsthaft antworten? Ich probier’s mal: Das Abendland ist in Gefahr – weil für zu leicht befunden:

Es ist leicht, zu ironisieren und verstaubte Moral anzuprangern; schwerer ist es, die Erscheinungen und Probleme der Zeit tiefer und eingehender zu untersuchen. Es ist leicht, wenn Menschen heute Freiräume nutzen und auf Moden und Trends springen; schwerer ist es, authentisch das menschlich-personale Eigene zu leben und zu verwirklichen. Leichter ist es anscheinend, Gleichberechtigung auf allen Gebieten, auch an der Waffe, zu fordern und durchzusetzen; schwerer scheint es zu sein, wirklich abzurüsten. Es ist leichter, eine Homoehe auf der Basis „Gleich und gleich gesellt sich gern“ zu leben; schwerer ist es, sich mit dem (ganz) Anderen in dieser Welt zu befassen und auseinander zu setzen und in eine fruchtbare(!) Beziehung und Dialog zu kommen (sic: eine Homoehe bleibt letztlich buchstäblich unfruchtbar im wahrsten Sinne des Wortes).

Ich würde gerne durch eine Umfrage mal statistisch festgestellt sehen, wie viele Menschen sich, wenn sie sich aufrichtig fragen, die von Ihnen ironisierte „klassische Familie“ im Grunde ihres Herzens doch wünschen! Allerdings scheinen viele nicht fähig und/oder gewillt zu sein, so etwas zu wagen, einzugehen, zu gestalten, die ganze damit zusammenhängende Verantwortung zu übernehmen und in Kontinuität über wenigstens 20 Jahre durchzutragen. Nun, wozu man sozial und kommunikativ nicht fähig ist, das kann man auch nicht verwirklichen; insofern ist jedenfalls heute mal alles freier, ehrlicher und offener; und alte Rollenmuster müssen nicht mehr in scheinheilen Familien quasi zwangsweise gelebt werden. Allerdings ist auch alles beliebiger und narzisstischer. So ist der Mensch noch nicht angekommen: So ist er noch nicht glücklich in Beziehung mit dem anderen Geschlecht und noch nicht beim ganz anderen Nächsten angekommen – und die „Geschichte“ noch nicht am Ende.

RAINER DYCKERHOFF, Mannheim

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