: Deutschland sieht rot-grün
Schröder und Fischer machen Reformen, die sie unter Kohl verhinderten. Aber nicht dessen zurückhaltende Außenpolitik
Wähler und SPD sind gestresst; noch nie wurde die Bundesrepublik so schnell reformiert. Die Arbeitsämter sind im Umbau, die Steuerentlastung geht in ihre dritte Stufe, die Rentner bekamen eine Nullrunde verordnet, und bei den Krankenkassen wurden 20 Milliarden Euro auf die Versicherten umgeschichtet.
Schon erkennen manche die späte Rache des Helmut Kohl. Hätte nämlich der frühere Bundeskanzler nicht alle Probleme ausgesessen, hätte er spätestens in den 90er-Jahren mit den Reformen begonnen, ja dann … stünden Deutschland und die SPD jetzt besser da.
Eine interessante Theorie. Allerdings übersieht sie, dass Kohl als Kanzler nicht nur posierte, sondern gelegentlich Einschnitte verordnete. So hat er 1996 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent gekürzt – womit er der SPD eines ihrer Lieblingsthemen im Wahlkampf 1998 bescherte. Zudem hat die SPD damals am „Reformstau“ kräftig mitgewirkt – sie besaß die Ländermehrheit im Bundesrat, und Parteichef Oskar Lafontaine ließ etwa eine große CDU-Steuerreform blockieren. Das Kalkül: Die Regierung Kohl sollte möglichst verbraucht aussehen.
Ohne Zustimmung des Bundesrats konnte die Union allerdings die Rentenformel ändern: Sozialminister Norbert Blüm führte den demografischen Faktor ein, um die Folgen einer alternden Gesellschaft bei sinkenden Geburten abzumildern. Das Kabinett Schröder schaffte diesen Faktor sofort ab – um ihn wenige Jahre später leicht verändert wiederzubeleben. Diesmal unter dem Namen Nachhaltigkeitsfaktor.
Ein ähnliches Hin und Her war beim Kündigungsschutz zu beobachten: Schon unter Kohl stieg die Geltungsgrenze von fünf auf zehn Beschäftigte. Dort ist Rot-Grün nun wieder angelangt. Ähnliches ereignete sich mit der Kohl’schen Idee der Minijobs, die von Rot-Grün erst eingeschränkt und dann doch ausgeweitet wurden.
Übrigens wurden auch die Arbeitsämter schon zu Kohls Zeiten umgebaut. Das „Arbeitsamt 2000“ legte Vermittlung und Leistungsbewilligung zusammen, das sollte damals die „Kundenorientierung“ gegenüber den Arbeitslosen fördern. Wie gut diese Idee war, wird man nie wissen, denn die Reform war noch nicht beendet, da startete Rot-Grün das neue Projekt Jobcenter – wieder wegen der „Kundenorientierung“.
So eindeutig ist das also nicht mit den Reformversäumnissen. Zumal es nicht so sehr an Reformen fehlen dürfte – sondern an zutreffenden Analysen der Probleme. Die Hartz-Reformen sind dafür ein legendäres Beispiel, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen: Immer wieder wird so getan, als würden dadurch die Lohnnebenkosten sinken und der Standort Deutschland im globalisierten Wettbewerb gestärkt. Doch handelt es sich um steuerfinanzierte Leistungen – die nichts mit den Lohnnebenkosten zu tun haben. Erstaunlich spät setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass Jobs nicht allein dadurch entstehen, dass man die Vermittlung der Arbeitsagenturen umkrempelt.
Die Steuerreformen sind ähnlich erfolglos. Sie sollten die Nachfrage stärken und den Binnenmarkt beleben. Davon ist nichts zu sehen. Stattdessen fehlt dem Staat das Geld, um zu investieren. Auch ein Grund, warum die deutsche Konjunktur so weit hinter dem EU-Standard zurückbleibt – und warum neue Reformsuperlative zu erwarten sind. Der Stress geht weiter, so viel ist sicher.
ULRIKE HERRMANN
Wofür steht die Außenpolitik der rot-grünen Koalition? Für die Wiederbelebung des Irrglaubens, der Einsatz militärischer Mittel sei ein Ersatz für Politik? Dafür spricht – aus der Sicht von Kritikern – die deutsche Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien während der Kosovokrise 1999 und auch die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den Vereinigten Staaten, die Elitekräfte der Bundeswehr im unwegsamen und unbesiegbaren Afghanistan hat kämpfen lassen. Oder hat der Widerspruch, den vor allem Bundeskanzler Gerhard Schröder – erheblich lauter als sein Außenminister Joschka Fischer – gegen den Irakkrieg 2003 eingelegt hat, jene bestätigt, die meinen, im Grunde ihres Herzens seien die Verantwortlichen noch immer verhinderte Teilnehmer der Ostermärsche?
Es gibt noch eine dritte Sichtweise des Geschehens. Laut dieser hat die Bundesregierung niemals einen eigenen sicherheitspolitischen Kurs verfolgt, sondern ist stets den Weg des jeweils geringsten Widerstandes gegangen. Am Kosovokrieg hat sie sich in dieser Lesart vor allem deshalb beteiligt, weil sie seinerzeit – kurz nach der eigenen Inthronisierung – kein schweres Zerwürfnis mit den USA riskieren wollte. Die Zustimmung zum Irakkrieg verweigerte sie hingegen allein aus populistischen Gründen: die öffentliche Meinung in Deutschland sah den Angriff auf den Irak als ein nicht kalkulierbares Risiko.
Für diese Theorie gibt es gute Argumente. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Bundesrepublik den US-Streitkräften die Überflugrechte über deutsches Territorium auch während des Irakkriegs nicht verweigert hat. Angeblich haben deutsche Marineeinheiten im Golf von Aden einigen US-Kriegsschiffen sogar unauffällig Geleitschutz gegeben. Sollte das tatsächlich so gewesen sein, dann wäre damit die Grenze zur unmittelbaren Kriegsbeteiligung eindeutig überschritten, auch wenn niemals ein deutscher Soldat irakischen Boden betreten hat.
Der geplante Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in eine angriffsfähige, interventionsfähige Streitmacht stützt die These. Die Behauptung von Verteidigungsminister Peter Struck, die deutsche Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt, findet ihre Entsprechung in einem offiziellen Dokument: In den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2003 interpretierte die Bundesregierung den Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes als Mandat für weltweite Einsätze.
Streut die rot-grüne Koalition also nur Sand in die Augen von Kriegsgegnern, um hehlings die Militarisierung der Außenpolitik vorantreiben zu können? So einfach liegen die Dinge nicht. Mag sein, dass der Widerstand gegen den Irakkrieg ursprünglich allenfalls symbolisch gemeint war. Die Dynamik der Ereignisse hat jedoch dazu geführt, dass diese Symbolik ein wesentlicher Bestandteil der Realpolitik geworden ist.
Die deutsche Regierung darf sich, ebenso wie die französische, bestätigt fühlen – und dennoch ist die Nato nicht zerbrochen. Es sieht so aus, als ob die Militärallianz gegenwärtig wenig Lust auf neue Abenteuer verspürt. In offiziellen Stellungnahmen findet diese Haltung allerdings noch keinen Niederschlag. Ist das Glas also halb leer oder halb voll, im Hinblick auf Friedenspolitik? Das ist, wie immer, eine Frage des Standpunkts.
BETTINA GAUS