Trotz Grippe und Frost – gemolken wird immer

Als die taz vor elf Jahren den Karolinenhof zum ersten Mal besuchte, steckte das Projekt einer ökologischen Ziegenzucht in seiner ersten Krise. Heute hat das Biobauernpaar weniger Sorgen – und kaum Zeit für sich selbst. Fazit nach einem guten Jahrzehnt: „Die Arbeit haben wir unterschätzt“

VON SABINE AM ORDE

In dem kleinen, gekachelten Raum drängen sich links und rechts je zwölf Ziegen in einer Reihe. Ihre Köpfe sind über das Futter gebeugt, am Hals werden sie von kleinen Metallschranken festgehalten. Es ist früher Abend, kurz nach sechs. Auf dem Karolinenhof hat das abendliche Melken begonnen. In der Mitte des Melkstands steht Roger Lemke, ein hagerer 40-Jähriger mit kurzen, dunklen Haaren und Dreitagebart. Mit den Händen zapft er etwas Milch aus jedem Euter, „um mögliche Keime zu entfernen“. Dann legt er die Melkmaschine an. Mit einem rhythmischen Geräusch fließt die Ziegenmilch durch die Schläuche. Der Landwirt nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche. Es ist Pinkus, Biobier.

Nebenan, in der Käsekammer, arbeitet Gela Angermann. Sie steckt in weißen Gummistiefeln, Kittel und Haube und wendet den „Karolinenhöfa“, wie hier eine Art Tilsiter heißt. Sechs bis acht Wochen muss der Käse reifen. „In dieser Zeit wird er alle zwei Tage gewendet und mit Salzwasser eingerieben“, erklärt sie mit einem Waschlappen in der Hand.

Seit fast 13 Jahren leben die beiden mit ihren inzwischen drei Kindern auf dem Karolinenhof, der einige Kilometer nordwestlich des Berliner Rings im Kreis Oranienburg liegt. „Einen ökologischen Ziegenhof zu machen, das war mein Traum“, sagt Angermann später am Küchentisch und füttert dabei das Katzenkind auf ihrem Schoß mit der Flasche. „Aber die Arbeit, die haben wir unterschätzt.“ Dabei waren die beiden nicht unbedarft: Beide sind gelernte Landwirte mit jahrelanger Ziegenerfahrung. „Es ist eben etwas anderes, ob man einen Hof alleine führt, mit all der Verantwortung und ohne Pause.“

Gemolken werden müssen die insgesamt hundert Ziegen zweimal am Tag. Käse wird viermal in der Woche gemacht, egal ob es draußen friert, die Grippe zugeschlagen hat oder die Kinder mit Masern im Bett liegen. Am Wochenende verkaufen die beiden außerdem im Hofladen und bewirten Ausflügler im Wiesencafé. 14 Stunden dauert im Schnitt ein Arbeitstag. „180 Tage haben wir jetzt durchgearbeitet“, erzählt Lemke, der manchmal etwas ruppig wirkt, gestern hatten wir zum zweiten Mal in diesem Jahr einen halben Tag frei.“ Und trotzdem ist sich der Landwirt sicher: Eine Alternative zu dem Leben hier kann er sich nicht vorstellen. „Aber die Frage danach stellen wir uns immer wieder.“

Im Sommer 91, da waren sie gerade 22 und 27 Jahre alt, fuhren die beiden von Berlin aus drei Wochen lang übers Land auf der Suche nach einem geeigneten Hof. Kein schöner Backsteinbau sollte es sein, der mit viel Geld hätte saniert werden müssen, sondern ein halbwegs funktionstüchtiger Gebäudekomplex aus den Sechziger- oder Siebzigerjahren. Im August wurden sie fündig, im Dezember zogen sie ein. Seitdem besitzen sie das Wohnhaus, das inzwischen umgebaut und rot gestrichen ist, und vier noch immer sanierungsbedürftige Ställe, dazu zweieinhalb Hektar Land. Weitere 32 Hektar, die früher zur LPG Flatow gehörten, haben sie gepachtet, um Futtergetreide für die Ziegen anzubauen.

Kein Bad, keine Küche

Der erste Winter war eine Grenzerfahrung. Das Haus war marode, zugig und kalt. Zusammen mit ihrem damals vierjährigen Sohn Birk lebten sie in einem Zimmer, im Winter wurde die Tochter Ronja geboren. Badezimmer und Küche gab es nicht, auch kein fließendes Wasser. 1992 haben die beiden vor allem gebaut und viel Zeit mit Verhandlungen und Anträgen verbracht. Seit 1993 werden Ziegenmilch und -käse produziert.

Damals hat die taz den Karolinenhof schon einmal besucht. Auf der Suche nach „Umland-Utopien“, wie die Artikelserie hieß. Auch da klagten Lemke und Angermann, die wieder schwanger war, über die viele Arbeit, hinzu kamen jede Menge Anfangsschwierigkeiten. Von den Nachbarn in der Region wurden sie kritisch beäugt: Zwei junge Wessis – sie in Süddeutschland aufgewachsen, er in Berlin –, die Ziegen züchten und Rohmilchkäse herstellen wollten, der in der DDR verboten war. Für Spinner wurden sie gehalten – bestenfalls. Manchmal wurden sie auch als Asoziale beschimpft. Die Fördermittel ließen auf sich warten. Als dann noch die Hälfte der Herde einging, weil sich auf der Weide Giftpflanzen eingenistet hatten, war die Krise da. „Vor kurzem hätte ich alles hinschmeißen können“, sagte Angermann damals dem taz-Reporter. Viel Idealismus ist auf der Strecke geblieben. Hinschmeißen würde sie den Karolinenhof heute nicht mehr, auch wenn sie froh ist, dass sie einmal wöchentlich zur Schule gehen kann, um Ökomarketing zu lernen.

Gela Angermann hat sich mit ihren Eltern, die ebenfalls Ziegenbauern sind, zerstritten. Jetzt träumt sie davon, dass ihre Kinder in die Ziegenkäserei einsteigen. „Ein klassischer Familienbetrieb wäre der Idealzustand“, sagt die Landwirtin, die ein Ziegenkopf-Tattoo auf dem Oberarm trägt. Ob ihre Kinder das genauso sehen? Birk, inzwischen 17 Jahre alt, ist gerade ausgezogen. Er lebt jetzt in Nauen, wo er zur Schule geht. „Von hier aus war alles so wahnsinnig weit weg“, sagt Angermann, „es war ihm zu langweilig.“ Später räumt sie ein, dass Birk als Kind sehr unter dem Leben auf dem Hof gelitten hat. „Bis zur dritten Klasse ist er als ‚Ziegendreck‘ beschimpft worden.“ Auch die beiden Kleinen hatten es nicht leicht. „Als wir mit der Produktion angefangen haben, war Ronja anderthalb“, erzählt Lemke. „Sie musste auch bei minus 15 Grad zum Melken mit in den Stall, weil wir niemanden zum Aufpassen hatten.“ Zeit für die Kinder bleibt dabei kaum. „Die freuen sich ’nen Ast, wenn wir alle drei bis vier Monate etwas mit ihnen unternehmen.“ Ob die drei ein solches Leben wiederholen wollen? Angermann zuckt mit den Schultern. „Mal abwarten. Wir können diese Arbeit jedenfalls keine 20 Jahre mehr machen“, sagt sie und gibt zu, dass es ihr auch schwer fallen wird, die Kontrolle über die Käserei abzugeben.

Die Rettung brachte RTL

Technisch hat sich der Betrieb seit dem ersten taz-Besuch gemacht. Melkgasse und Käserei waren damals alt, die Milch musste noch in Kannen zur Käserei geschleppt werden. Hofladen und Wiesencafé gab es noch nicht. Die Misthaufenheizung, die Lemke gebaut hatte, ist jetzt durch eine Gasheizung ersetzt, und die beiden denken über Sonnenkollektoren nach. Am Anfang lebte die Familie von der Sozialhilfe, das Eigenkapital war gleich null. „Ohne eine Landesbürgschaft hätten wir keine Kredite bekommen, und ohne die Hilfe von Familie und Freunden hätten wir es nicht geschafft.“

1996 wäre der Hof fast Pleite gegangen. „Der neue Käsekessel, das Melkwerk, die Sanierung der Herde, das hat viel Geld gekostet, und das haben wir nicht überblickt“, sagt Lemke, gießt Ziegenmilch in seinen Kaffee und zieht an der selbst gedrehten Zigarette. „Damals habe ich relativ unruhig geschlafen.“ Die Rettung hat dem Karolinenhof der Privatsender RTL beschert. Der suchte einen Hof als Location für eine Fernsehserie, hat auf dem Karolinenhof gedreht – und dafür nicht schlecht bezahlt. „Seitdem geht es bergauf.“

Was auf der Strecke bleibt, sind die sozialen Kontakte. Bis vor drei Jahren haben sie Freunde am Wochenende regelmäßig besucht und in Bauwagen übernachtet. Aber seit es den Hofladen und das Wiesencafé gibt, haben die beiden am Wochenende noch weniger Zeit als an Werktagen. Die Freunde blieben weg. „Wir haben auch keine Zeit, sie zu besuchen“, sagt Angermann, „wir kommen kaum weg vom Hof.“

Die viele Arbeit bleibt, auch wenn die beiden Landwirte inzwischen zwei Aushilfskräfte beschäftigen. 55.000 Liter Ziegenmilch werden auf dem Karolinenhof jährlich produziert, ein Großteil davon zu rund 5 Tonnen Käse verarbeitet. Verkauft werden die Produkte ausschließlich im Hofladen. In diesem Jahr ist der Absatz so groß, dass sie wohl keinen Käse mit ins neue Jahr nehmen werden. Ob sich das Geschäft lohnt? „Wir kommen so über die Runden“, sagt Lemke.

Die schlimmere Jahreshälfte haben die beiden jetzt hinter sich. Gegen Ende des Winters werden die Ziegenlämmer geboren, inzwischen fast 200 pro Jahr. 20 von ihnen, die als Zuchttiere auf dem Hof bleiben sollen, werden den Muttertieren weggenommen und von Hand aufgezogen. Die anderen Zicklein müssen nach vier bis acht Wochen zum Schlachter. Dann gibt es wieder Milch, der erste Käse wird produziert und bald auch wieder Ziegenkäsekuchen für das Wiesencafé. Am vorletzten Februarwochenende ist Saisoneröffnung, Hofladen und Café machen auf. Zu Ostern herrscht auf dem Karolinenhof Hochbetrieb. Dann kommen die Frühjahrsbestellung der Felder und der Heuschnitt. All das ist für dieses Jahr überstanden. „Jetzt wird es langsam ruhiger“, sagt Lemke. Er freut sich auf den Winter. Dann müssen die Ziegen nicht gemolken werden, eine Aushilfe übernimmt die Fütterung. Und die Familie fährt in Urlaub.