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Archiv-Artikel

Kohl auf immer und ewig

Der Altkanzler ist da – nicht wieder, sondern immer noch. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass der Oggersheimer bis ans Ende aller Tage regieren wird – wenn auch nicht im Kanzleramt

VON SUSANNE LANG

Es war einer dieser Momente, in denen selbst das Ei, hätte man eines geworfen, einfach still gestanden wäre. Kein Zurück. Kein Voran. Helmut Kohl sitzt im Zweiten Deutschen Fernsehen und spricht. Über „Wir-Gefühl“. Über den „Fußballweltmeister 1974, Deutschland“. Es ist einer dieser Momente, in denen schmerzlich bewusst wird: Das Ei ist längst gekocht, so hart, dass Helmut Kohl wieder allüberall ungestört steht und spricht. Über „Deutschland“. Über „Frieden“. Über „Europa“, das vereinigte und jüngst erweiterte, also über sein Europa, auf das er zu Recht stolz sein darf. Alt- und Längst-Bundeskanzler Helmut Kohl ist da – nicht wieder, sondern immer noch. So hatte ein anderes „Wir“ nicht gewettet: All jene, die in Kohls sechzehn Jahren aufgewachsen sind, im Schulunterricht Kanzler und Kohl synonym verwendeten und 1998 mit Rot-Grün eine zweite Wende feierten.

Kohl ist also da. In Talkshows. Im Wahlkampf der CDU. Im Kampf gegen die Birthler-Behörde, die er an der Veröffentlichung seiner Stasi-Akten hindert. In seinen Memoiren „Erinnerungen“, konserviert für alle Ewigkeit. Und Kohl zeigt Wirkung: Im aktuellen „Politiker DAX 100“ kletterte er gerade um sechs Plätze nach oben – Kurssteigerung in einem Index, der die Medienberichterstattung über Politiker in ihrer Häufigkeit untersucht und daraus die wichtigsten Personen des politischen Lebens folgert. Immerhin, Gerhard Schröder führt den Polit-DAX noch an.

Kohls Prestige beruht immer noch auf der sehr simplen Strategie, die er als Politiker von jeher verfolgte: Bildgewaltig bedient er die Gefühle, setzt auf Symbolik statt Inhalt, Optimismus statt Realitätsbewusstsein. Paradoxerweise verschafft er sich damit das begehrteste Gut in einer medialisierten Gesellschaft: Authentizität. Auf Helmut Kohl ist Verlass. Der kippt nicht, der fällt nicht, der ist. Und das unbeirrbar. Alle anderen vereinnahmt er großzügig in seinem besitzergreifenden „Wir“. Dadurch drängt er sich förmlich auf als mentale Charaktermaske, die sich tatsächlich viele wieder gerne aufsetzen, über die sogar die Linke müde wurde zu spotten – dazu hat sie nun ja sich selbst. Die Mehrheit der bürgerlichen Wählerschaft, die sich in einem rot-grünen Chaos verloren wähnt, träumt mit Wohlstands-Angst doch lieber von blühenden Landschaften. Selbstverständlich gebe es Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Sagt der Gastwahlkämpfer. Aber – und das alleine zählt: „Wir“ setzen auf Deutschland.

Helmut Kohl personifiziert den Minimalkonsens, auf den sich das geistig-moralisierte Bürgertum kurzfristig nicht mehr einigen wollte, sodass ein links-alternatives Experiment möglich war. Kohl ist der einfachste gemeinsame Nenner, der selten weiter führt, aber gerade jetzt wieder in die Pflicht genommen wird, wo das Leben in der Reform-Gesellschaft so unbequem geworden ist. Helmut Kohl, das ist die personifizierte Sehnsucht nach dem Status quo. Alles soll so bleiben, wie es einmal war: Normal. Wir beißen nicht, wir wollen nur gut leben, im Wohlstand, den sich die Vorgängergenerationen erarbeitet haben – soziokulturell und ökonomisch. Wie das vermeintlich Normale wirklich aussah, vergisst sich schneller, als die Gegenwart schmerzen könnte. Helmut Kohl, ein Fleisch gewordenes Museum, für das er sich als kulturelle Institution schon zu Amtszeiten stark machte. Das Museum als „Ort der Ausbildung historischer Phantasie“, wie man ihm jüngst auf dem Kolloquium „Die Ära Kohl im Gespräch“ noch einmal attestierte.

Der historisierend-nostalgische Blick dieser Tage muss unweigerlich auf Helmut Kohl treffen. Auf ihn projiziert man jene Werte, die sich schon bei der propagierten geistig-moralischen Wende in den 80er-Jahren aus der Adenauerzeit speisten. Der augenblickliche Wunsch nach Restauration, das reaktionäre Verlangen, selbst in großen Teilen der Kohl-sozialisierten Generation, nach einer 50er-Jahre-Idylle (oder zumindest der 80er), ist nur im Verklären möglich: ökonomischer Aufschwung, intakte Familien, europaorientiertes Nationalbewusstsein – all das verkörpert keiner besser als der „letzte Dinosaurier“ (Spiegel), der Patriarch Helmut Kohl.

Ein schwergewichtiger Elder Statesman, der in seiner körperlichen Wucht dem archaischen Typus des Mächtigen erschreckend nahe kommt, den Elias Canetti als „Meistfresser“ klassifiziert: Die Leibesfülle symbolisiert die Größe der Macht. Potent ist, wer nicht nur am meisten zu essen hat, sondern das auch öffentlich zelebriert. Die Menschen, „sie verlassen sich auf seinen gefüllten Bauch, als hätte er ihn für sie alle mitgefüllt“. Mit einem, sehr bundesrepublikanischen, Unterschied: Der gefüllte Bauch repräsentiert nicht nur das Wohl der gesamten Gesellschaft, er signalisiert, dass jeder darauf ein Anrecht hat.

Wollten wir eines nicht glauben, damals, nach der Wahl, dann war es die Rückkehr jenes Moments, in dem man Eier werfen möchte, und ein Helmut Kohl selbstgefällig weiter lächelt, als wollte er sagen: Ich habe ja immer davor gewarnt, mit den Sozen kommt der Niedergang dieses unseres Vaterlandes. Das System Kohl, es dürfte laut Theorie gar nicht existieren: resistent, von keiner Umwelt zu irritieren. Als Feindbild war Kohl unübertrefflich. Aber das ist tatsächlich Vergangenheit.