kreuzberger kiezleben : Geschichten voller Sehnsucht
Am Nachmittag auf der Kreuzberger Oranienstraße: Menschen hasten vorbei, kaum ein Blick streift den anderen. Daniel Trost hat sich Zeit genommen. Er steht fröstelnd vor der Glasfassade des Cafés „Milch und Zucker“, die Hände tief in die Taschen vergraben. Seine Augen sind auf ein Plakat im Schaufenster fixiert, von dem ein schüchtern lächelndes Mädchen aufblickt.
Es ist eines der vielen Porträts der Straßenausstellung „Sehnsucht – das Gedächtnis der Stadt“. 50 Kreuzberger jeden Alters und verschiedenster Herkunft haben dafür ihre Geschichte erzählt. „Es ist spannend, die Texte zu lesen und mehr über Menschen zu erfahren, die im selben Stadtteil wohnen, aber mit denen man wohl nie reden würde“, sagt der 27-jährige Student, der seit sechs Jahren hier lebt. Immer wieder stößt er im Alltag auf andere Plakate, die an Cafés, Geschäften und Institutionen rund um Oranien-, Heinrich-, und Lausitzer Platz kleben. In Erinnerung geblieben ist ihm vor allem die Geschichte einer 64-Jährigen Frau, die 1945 in der Oranienstraße geboren wurde. Sie erzählt von den Trümmern, in denen sie gespielt hat, dem Mauerbau und den ersten Zuwanderern, die damals noch nicht als Ausländer bezeichnet worden seien. „Die Geschichten spiegeln die Entwicklungen und das Lebensgefühl hier wieder“, findet Daniel.
Das ist auch im Sinne von Waltraud Boll. Die Initiatorin von „Sehnsucht“ lebt selbst seit zehn Jahren in Kreuzberg. Mit dem Projekt will sie erreichen, dass die Menschen, die hier zusammenleben, mehr voneinander erfahren. Den Titel hat sie bewusst gewählt: „Bei den Gesprächen habe ich festgestellt, dass viele aus Sehnsüchten heraus hierher gekommen sind.“ Neben besonderen Lebensrückblicken hat die Frau auch Wünschen, Träumen und Veränderungsvorschlägen einen Platz gegeben. Fotos untermalen die Texte, zeigen die Personen, ihnen wichtige Gegenständen oder bedeutende Orte aus Kreuzberg. Ein „lebensnahes Projekt“ nennt die 40-Jährige, die normalerweise Theaterregisseurin ist, ihr Unternehmen.
Über das bisherige Feedback ist sie mehr als erfreut, wie sie sagt. Ständig kämen Menschen auf sie zu, die ebenfalls ihre Geschichte erzählen möchten. Auch von den Ausstellungsorten hört man Positives. „Es bleiben oft Leute länger stehen und lesen. Das ist schön in so einer hektischen Zeit“, freut sich Stefanie Hetze von der Buchhandlung „Dante Connection“ in der Oranienstraße. Die Geschichte mit den Geschichten habe sich im Kiez rumgesprochen, die Leute redeten sogar von ihren Lieblingsgeschichten.
An der Buchhandlung hängt so eine. Sie handelt von einem Ecuadorianer, der zufällig nach Berlin kam. Kurz vor seinem Rückflug lernte er die Liebe seines Lebens beim Tanzen im „Havanna“ kennen und blieb.
Für Boll ist jede Erzählung wichtig und besonders. Sie kann sich gut vorstellen, dass Projekt auch auf andere Stadtteile auszuweiten. Die vorerst 50 Geschichten kann man noch bis 15. März in Kreuzberg besichtigen. Eine Liste der Ausstellungsorte gibt es an den Plätzen selbst und im Internet unter www.dasgedaechtnisderstadt.de. Die Ausstellung soll mit einer Lesung enden. Alle Beteiligten werden die Geschichte eines anderen vortragen. Und auch wenn man nicht immer weiß, welches Gesicht hinter welcher Geschichte steckt, so fühlt man sie doch die Sehnsucht, die verbindet. JUDITH NOACK