: So mütterlich wie unnahbar, gleich gemocht und gefürchtet
Inge Meysel, Schauspielerin und der Deutschen prägendste Mutterfigur, starb am Sonnabend im Alter von 94 Jahren in Bullenhausen bei Hamburg. Ein Nachruf
VON JAN FEDDERSEN
John Olden, ihr geliebter Mann, bemerkte Mitte der Fünfziger, auf dieses Ding müsse sie achten, auf das werde es ankommen. Und zeigte auf eines dieser damals noch schrankmöbelartigen Fernsehgeräte. Das konnte sie ihm nicht glauben. Das Fernsehen als Prominenz stiftendes, als populärstes Medium schlechthin? Inge Meysel irrte – zu ihren Gunsten, denn vor allem das Fernsehen sollte sie berühmt machen. Viel mehr als das Theater, das sie, Tochter einer Dänin und eines Deutschen, Ende Mai 1910 in Berlin in großbürgerliche Verhältnisse zur Welt gekommen, als Bühne anstrebte.
Futter für das Fernsehen
Das Fernsehen. Jenes der frühen Jahre brauchte Futter – am liebsten Programme für die ganze Familie. Und Inge Meysel füllte sie gern, neugierig und ehrgeizig. Sie war ein Star der frühen Fernsehjahre. Bekam für ihre Rollen – gern solche von amerikanischen Autoren wie Thornton Wilder oder Tennessee Williams – sogar etliche Exemplare des neben der „Goldenen Kamera“ der HörZu wichtigsten Preises: den „Goldenen Otto“ der Bravo, dem Zentralorgan der deutschen Jugend. Berühmt werden aber sollte sie mit einer Serie, die ihr den Namen „Mutter der Nation“ eintrug – was, wer sie in der Rolle der Käte Scholz in den „Unverbesserlichen“ gesehen hat, nur als verharmlosende Kränkung empfinden konnte.
Denn eine liebende, etwas weinerliche, tapfere und aufopferungsvolle Mutter, das war diese Managerin des Haushalts der Berliner Familie Scholz keineswegs. Inge Meysel gab ihre Figur als deutsche Mutter in jenem Milieu, das nicht mehr ganz unten, aber noch lange nicht ganz oben ist. Als Mutter einer Familie im Trümmerberlin der Wiederaufbaujahre, einer, in der sich die Deutschen wiedererkannten. Inge Meysel war kein adrettes Muttchen, das sich ins Schicksal fügt, sondern eine Haushaltsvorsteherin, Tyrannin auch, gewiss auch Sorgende, Liebende, Mitfühlende – und Klagende. Und immer mit dieser für die Meysel typischen Mimik: War sie wieder einmal enttäuscht von ihren Angehörigen, versteifte sich ihr Nacken, gerann ihr Mund zu einem bitteren Strich und wimmerte die Stimme hart und beleidigt in einem um Gehör.
Umarmend, abweisend
In den „Unverbesserlichen“ zeigte die Meysel, wie es wirklich zuging in deutschen Familien – roh, eifersüchtig, umarmend, abweisend und nahbar zugleich. Und Inge Meysel war die Heldin dieses Anti-Laubenpieper-Dramas, das von 1965 bis 1971 mit je nur einer Folge pro Jahr Gesprächsthema des ganzen Landes war: In den „Unverbesserlichen“ wurde thematisiert, was die Republik aufrührte. Geldnot, Arbeitslosigkeit, Rentenprobleme, Ausbildungsplatzsorgen, Aufstiegsattitüden und Sexualkundeunterricht.
In einer Szene, als ihr TV-Enkel von der Schule kam, realisiert Käte Scholz, dass nun auch Sexualkunde gelehrt wird. Sie ist peinlich berührt und weiß ihrem Enkel kaum zu helfen. Gegen ihre Scham kam sie nicht an, die Dinge untenrum, das erkannte das Publikum erschreckt wieder, waren eine Bastion des Unschicklichen und Schmutzigen. In diese Szene hinein platzt ihre eigene TV-Mutter, gespielt von der wunderbaren Agnes Windeck. Für die, schon um ihre Tochter auszustechen, sind die neuen Dinge, die durch die Republik wehen, gar kein Problem. „Käte, ich muss es dir sagen, du bist wirklich altmodisch.“
Das war das beste Sittenbild der bundesdeutschen Umbruchjahre – und Inge Meysel als tapfere, harte und strenge und doch auch warmherzige Mutter Scholz. Die Meysel hat sich fürderhin dagegen verwahrt, als „Mutter der Nation“ zu amtieren. „Ich war über 50. Was hätte ich denn sonst spielen sollen? Die Liebhaberinnen waren undenkbar – da war die Käte Scholz gerade richtig.“ Sie muss eine glänzende Schauspielerin gewesen sein, denn ganz lässt sich ja nie prüfen, ob das, was sie spielen, eben nur Spiel ist – oder ein Teil der eigenen Wirklichkeit.
Mütterlichkeit jedenfalls war der Meysel fremd, und niemand, weder ihre Freunde noch ihre Nichtfreunde (denn Feinde hatte sie keine) kämen auf die Idee, in der gebürtigen Berlinerin eine gütige Alte mit mütterlichem Witz zu erkennen: Sie war vielmehr das, was eben Mütter nicht zu sein haben. Hart, divenhaft, die eigenen Wünsche immer im Blick, engagiert im politischen Sinne, rebellisch vor allem im hohen Alter – und provokant gerade in der Frage des Alters. Falten? „Ich mochte mein Gesicht immer.“ Gymnastik? „Keine Zeit. Das beste Mittel, um fit zu bleiben, ist Arbeit.“
Und dieses Credo hat sie bis zum Frühjahr vorigen Jahres gelebt – in ihrer letzten Rolle, in einem „Polizeiruf 110“, spielte sie bravourös eine tüdelige Alte, die irgendwie schon auf dem Weg in ein Anderswo ist. Seither fiel sie in jene Hilflosigkeit, die Demenz genannt wird, in eine Lebensphase, in der sie ihre Freunde nicht mehr erkannte oder längst Verstorbene in Besuchern wiederzuerkennen glaubte.
Respektiert, aber geliebt?
Sie meinte noch vor zwei Jahren, sie habe alles im Leben gelebt, was eben zu leben wäre. Und sie werde wohl gerade wegen ihrer unbeugsamen Haltung Missständen gegenüber respektiert und gemocht – aber geliebt worden sei sie nur von ihren Liebhabern. Womit sie auf gewisse Weise – und klug in eigener Sache – Recht gehabt hat. Ob sie nun mit Alice Schwarzer und anderen Ende der Siebziger gegen den Stern und seine, so der Vorwurf, pornografischen Titelbilder prozessierte, ob sie sich mit anderen Allzeit-Polit-Kultur-Promis für die Wiederwahl Gregor Gysis in den Bundestag einsetzte, ob sie andererseits alten Menschen das Recht auf einen selbst bestimmten Tod einräumte und das Wirken der Gesellschaft für Humanes Sterben unterstützte: Die Meysel sagte nie etwas, was gänzlich allen auf die Nerven ging – aber sie sagte es mit der Haltung ungeduldiger Vernunft. Wer ihre Argumente nicht teilte, wer gar ihr nicht zu Füßen lag, wer, alles in allem, ihren Charakter klassischer deutscher Mütterlichkeit nicht respektierte, hatte es sich schnell mit ihr verdorben.
Sie war gefürchtet und respektiert zugleich. Gelegentlich ließ sie noch am Drehort Schauspieler von der Besetzungsliste streichen: Wenn sie ihr nicht passten, wenn sie ihr nicht, nun ja, professionell genug arbeiteten. Die Macht hatte sie – mit der Meysel war bis zum Ende ihrer Berufstätigkeit Quote zu machen. Und wer hätte sich mit ihr anlegen sollen: Wäre nicht Trude Unruh die Vorsitzende der Grauen Panther, sondern die Meysel es gewesen – die Partei krepelte nicht in der Nische der Sonstigen, sondern säße im Bundestag.
Niemals lauwarm
Inge Meysel hat immer geglaubt, dass das Leben nicht dazu da ist, dass sich da eine wie sie duckt und klein macht. „Kein Muschimuschi, kein Lauwarm“, sagte sie. Und das galt in eigener Sache gewiss besonders. Als Kind eines jüdischen Tabakhändlers erlebte sie gerade am Beginn ihrer Laufbahn die Kränkung, dass Kollegen mit ihr nicht mehr spielen wollten – das Angebot der Nazis, sie wieder in Gnaden zu nehmen, würde ihr Vater bloß im Ersten Weltkrieg gefallen sein, erboste sie zutiefst: „Ich sagte dem Mann, dass es doch besser ist, dass er nicht gefallen ist.“ Auf die Bühne zurück durfte sie erst wieder im demokratischen Deutschland nach 1945 – das, was war, das nannte sie „meine gestohlenen Jahre“.
Die wollte sie zurückhaben – deshalb arbeitete sie mit ihrem zweiten Mann John Olden wie wahnsinnig, kein Tag sollte mehr verloren gehen. Auch gegen alle KollegInnen, die im Dritten Reich zu Karrieren kamen. Ihren ersten Mann hatte sie verlassen, weil es den bekümmerte, keine Frau mit Schauspielerei als Hobby zu haben. Nein, der Meysel war der Beruf kein Hobby, sondern eine Mission, Leitsatz: „Ich bin nicht kleinzukriegen.“ John Olden, ein britischer Militär, der in Westdeutschland beim Aufbau einer demokratischen Bühnenkultur half, wurde ihr Mann. Ein Künstlerehepaar, bei dem es krachte und funkte und vor allem lebte. „Nach einer solchen Liebe“, sagte sie später, „wollte ich kein Amüsement mehr.“
Die gute Querulantin
Inge Meysel hat den Deutschen gezeigt, wie es ist, eine Mutter zu sein, schonungslos und peinsam offen. Und als Alte in allen Rollen seit 1990, wie es sein wird, wenn sich Menschen jenseits der Juvenilität nicht zufrieden geben mit den Krümeln, die vom „Brot des Lebens“ (Meysel) noch übrig geblieben sind. Eine quälend fiese, aufrührerische, querulatorische und, ja, auch gutmütige Alte hat sie im Grunde als Lebensaufgabe gespielt – in den meisten Filmen, in ihrem Leben. Dass viele ihrer Kollegen mit ihrer Art haderten, dass Journalisten sich vor ihrer hin und wieder unhöflichen Weise, Fragen zurückzuweisen, fürchteten: Das ist ihre Leistung. Sie wollte nie ein Liebchen sein. Sie hatte Hunger nach allem, was ihr ein gutes Leben bringt.
Als ihr 1981 das Bundesverdienstkreuz angetragen wurde, hat sie abgelehnt: „Ein Orden dafür, dass man sein Leben anständig gelebt hat?“ So etwas brauche sie nicht. Sie hat es geschafft. Am Sonnabend ist sie im Alter von 94 Jahren in ihrem Haus an der Elbe bei Hamburg gestorben.