: SPD-Linke: Vorwärts und vergessen
Nach den Niederlagen bei der Agenda 2010 und der Gesundheitsreform versuchen die Linken in der SPD neuen Mut zu finden. Die Bürgerversicherung soll schon auf dem Parteitag im November beschlossen werden, forderten Müller und Nahles gestern
aus Berlin LUKAS WALLRAFF
Es ist schon vertrackt. Da haben sich die Linken in der SPD gerade trotz der lähmenden Hitze zusammengesetzt, Fleiß bewiesen, ein zukunftsweisendes Papier geschrieben – und schon bei der Präsentation werden ihre Sprecher Michael Müller (Bundestagslinke) und Andrea Nahles (Parteilinke) wieder an die Vergangenheit erinnert. An die Agenda. An die Gesundheitsreform. An ihre Niederlagen. Bei allen großen Themen dieses Jahres hätten die Linken in der SPD „nur die Hacken der Reformer gesehen“, konstatiert ein Berichterstatter und fragt frech, ob die Linken nur noch ein „Appendix“ der Sozialdemokraten seien.
Die Frage ärgert Müller sichtlich. Von wegen Wurmfortsatz! Immerhin steht er der Parlamentarischen Linken vor, der „rund 120 Abgeordnete“ der SPD-Fraktion angehören. Genervt bellt er nun zurück, bei der ökologischen Modernisierung etwa sei er dem Fragesteller weit voraus. Nur will davon im Moment so gut wie niemand etwas hören. Was seine Linken brauchen, das weiß auch Müller, ist ein Gewinnerthema.
Andrea Nahles glaubt, es bereits entdeckt zu haben: die Bürgerversicherung. Schon auf dem nächsten SPD-Parteitag im November wollen die Linken den Systemwechsel im Sozialwesen beschließen lassen. Ganz vorsichtig. Ohne Abschaffung der privaten Krankenkassen. Ohne Zeitdruck. Die Umstellung werde „mehrere Jahre“ dauern, sagte Nahles. Eine Mehrheit in der SPD ist trotzdem nicht in Sicht. Aber immerhin sind auch die Grünen dafür und sogar Teile der Union.
Die Bürgerversicherung, so hoffen die Linken wohl, könnte ein Thema sein, bei dem sie nicht als Blockierer dastehen wie bei der Agenda 2010. Damals hatten sie nur die Gewerkschaften auf ihrer Seite – zu wenig, um Änderungen durchzusetzen. Was auch daran lag, dass die Linken selbst gespalten waren: in radikale Gegner der Sozialkürzungen wie Ottmar Schreiner und moderate Kritiker wie Müller, der sich einen „Gestaltungslinken“ nennt.
Die Linken müssten „wieder lernen, in größeren Dimensionen zu denken“, meint Müller. Nur wenn es gelinge, die soziale Demokratie gegenüber dem liberalen Kapitalismus à la USA konkurrenzfähig zu machen, könne ein „autoritäres Jahrhundert“ noch verhindert werden. „Wir können nicht nur eine Abwehrschlacht führen“, warnte Müller die Genossen. Sein Rat: „Wir müssen eine Gestaltungsoffensive starten.“
Konkrete Vorschläge wollen die Linken aber erst im September präsentieren, wenn der Leitantrag des Bundesvorstands für den Parteitag vorliegt. Der gestrige Termin sollte vor allem zeigen, dass sie noch da sind, die Linken der SPD. Und den Kanzler ein bisschen ärgern. Der nämlich hatte gerade wissen lassen, es sei „völlig falsch“, die Bürgerversicherung jetzt schon zu forcieren.