lexikon der globalisierung
: Was bedeutet eigentlich Leitkultur?

Der Begriff der Leitkultur ist ein sehr deutscher – die damit verbundene Thematik und Debatte beschäftigt aber alle Einwanderungsgesellschaften. Deren Merkmal ist ethnischer, kultureller und religiöser Pluralismus, der „einheimische“ Kulturvorschriften durch „fremde“ ergänzt. ImmigrantInnen wurden als Arbeitskräfte angeworben, doch insbesondere mit dem Nachzug der Familie (oder der Gründung einer solchen) wurden kulturelle Differenzen stärker betont und auffälliger wahrgenommen.

Migrationsforscher gingen von einer in drei Generationen abgeschlossenen Angleichung aus, doch zeigt sich heute, dass ethnische Gruppen homogene und endogame Enklaven über längere Zeiträume aufrechterhalten. Sprachinseln und religiös-kulturelle Vereine helfen ImmigrantInnen bei der (Binnen-)Integration, werden von der Mehrheit aber oft als „Parallelgesellschaften“ skandalisiert.

Der Begriff der Leitkultur, durch Sozialwissenschaftler und Politiker aufgebracht, ist ein defensiver Mobilisierungsbegriff, der oft nur einen „Herr im Hause“-Standpunkt anzeigt: „Gäste“ haben sich den Sitten und Gebräuchen der „Gastgeber“ anzupassen. Das übersieht, dass viele ImmigrantInnen Vollbürger sind (oder Mitbürger mit gefestigtem Aufenthaltsstatus). Ebenso verkannt wird, dass nichtreligiöse Gemeinwesen im Rahmen universaler Menschenrechte Minderheitenschutz und Religionsfreiheit garantieren. Nicht eine „christliche“ oder „deutsche“ Substanz kann als Leitkultur proklamiert und oktroyiert werden.

Verbindlich sind formale Prozeduren wechselseitiger Anerkennung und Toleranz. Kulturelle Vielfalt ist in politischer Gleichheit aufgehoben, das heißt: Identität kann eine kulturelle Gruppe nicht einseitig postulieren, und Integration ist eine gemeinsame bildungs-, sozial- und rechtspolitische Herausforderung.

Die Debatte um die Leitkultur spiegelt die kulturellen Widersprüche der Globalisierung. Wirtschaftlich wird globale Freizügigkeit gefordert, zugleich aber kultureller Protektionismus praktiziert. Transnationale Netzwerke machen Einwanderung zu einem Transitstadium, in dem weniger ein Leben „zwischen den Kulturen“ praktiziert wird als vielmehr „dritte Lebensformen“.

CLAUS LEGGEWIE

Das Lexikon entsteht in Kooperation mit dem wissenschaftlichen Beirat von Attac und erscheint jeden Montag.Zum Beitrag „Eigenverantwortung“: Der Autor Stephan Lessenich legt Wert auf die Feststellung, dass die veröffentlichte Fassung gekürzt und nicht von ihm autorisiert war.