: Kontrollieren geht über Probieren
Aber Chaosvermeidung ist noch kein Programm. Nach dem Sommer muss sich die Bundesregierung der Bürgerversicherung stellen
VON ULRIKE WINKELMANN
Hochfliegende Pläne sehen anders aus. In der zweiten Hälfte der Legislatur möchte die Regierung die Umsetzung dessen kontrollieren, was sie in der ersten an Gesetzen gemacht hat. Damit will Rot-Grün „der Ansage entgegentreten, die Arbeit sei geleistet“, erklärte Kanzler Gerhard Schröder zum Abschluss des Kabinettsausflugs ins brandenburgische Schloss Neuhardenberg. Dass bei allem Controlling „die Gesetzgebung nicht aufhört, ist klar“, ergänzte er.
Zwei Botschaften möchte die Bundesregierung nach ihrer Halbzeitbilanz verbreiten. Blöderweise widersprechen sie sich ein wenig. Erstens: Das Schlimmste liegt hinter uns, Leute – bis zur Wahl 2006 kommt nichts Böses mehr! Zweitens: Ein bisschen schlimm wird’s doch noch – packen wir’s an! Denn ab dem 1. Januar 2005 greift die Arbeitsmarktreform Hartz IV. Gegen die Aufregung darüber wird der Aufstand um die Gesundheitsreform zu Beginn dieses Jahres niedlich aussehen. Wenigstens aber soll es nächstes Mal so wirken, als wisse die Regierung, was für die Betroffenen an Kürzungen, für die Behörden an Arbeit und für die SPD an Vorwürfen zu bewältigen ist.
Aber mit dem Versprechen, weniger Chaos bei der Umsetzung sozialer Härten zu stiften, gewinnt man keine rot-grünen Mehrheiten. Dafür wird derzeit ein anderes Projekt heiß gehandelt: die Bürgerversicherung. „Schön, dass Sie fragen“, rief Schröder am Samstag launig. Beinahe hätte er vergessen zu erwähnen, dass das Kabinett Ende August oder Anfang September ja wieder in Klausur gehen wolle – dann in Bonn, was mit den Kommunalwahlen im September in Nordrhein-Westfalen zu tun haben dürfte. Dann soll bestimmt werden, welche Rolle die Bürgerversicherung in den Wahlkämpfen bis 2006 spielen wird.
Die SPD hat sich auf dem letzten Parteitag für diese Ausdehnung der allgemeinen Krankenversicherung auf privat Versicherte und auch auf Kapital- und Zinseinkünfte entschieden. An diesem Wochenende haben die Grünen in Nordrhein-Westfalen für ein recht radikales Konzept der Parteilinken und der Grünen Jugend gestimmt. Zeitgleich stritt auch der SPD-Parteirat in NRW darüber, ob die Bürgerversicherung zur Landtagswahl im Mai 2005 hochgezogen würde. Andrea Nahles, Vorsitzende der SPD-Arbeitsgruppe zur Bürgerversicherung, meint, dass ihr Thema es ganz nach oben auf die Agenda schafft.
Doch der Kanzler, aber auch etwa Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und Sozialministerin Ulla Schmidt fassen die Bürgerversicherung mit sehr, sehr spitzen Fingern an. Denn je mehr darüber bekannt wird, desto deutlicher wird, wie viele Widerhaken solch ein Riesenumbau der Krankenversicherung hat. Außerdem ist die ganze Wirtschaft dagegen. Die Arbeitgeberseite hält es mit dem Modell der CDU, der „Kopfpauschale“, einer Einheitsprämie für alle mit steuerfinanziertem Sozialausgleich. Doch es ist fraglich, ob die Regierung sich bis zur nächsten Klausur Bürgerversicherungs-enthaltsam zeigen kann.
Am Donnerstag will der Darmstädter Professor Bert Rürup sein überarbeitetes Modell der Kopfpauschale vorstellen. Dessen erste Umrisse sind schon bekannt: Eine Pauschale von 170 Euro würde ergänzt durch einen kleinen prozentualen Beitrag vom Einkommen, den auch Privatversicherte zu leisten hätten.
Diese Idee wies CDU-Chefin Angela Merkel allerdings bereits gestern von sich und verwies auf den Beschluss des CDU-Parteitags, wonach sich für Privatversicherte nichts ändern soll. Wenn das Kabinett nicht der Union die Debatte um die Zukunft des Gesundheitswesens überlassen will, kann es kaum den ganzen Sommer dazu schweigen. Zumal man künftig „auch die Alternativen zur eigenen Linie deutlicher darstellen“ will, wie Regierungssprecher Hans Langguth in Neuhardenberg erzählte.
Das andere große Thema auf der kommenden Klausur jedenfalls verspricht mindestens so viel Streit um Bürokratie und vielsilbige Expertenvokabeln wie die Bürgerversicherung: Der Föderalismus, erklärte die grüne Fraktionschefin Krista Sager gegenüber der taz, solle ebenfalls in Bonn auf die Tagesordnung. Schon wieder so ein Thema, das nur zusammen mit den Unions-regierten Bundesländern funktioniert. Dass aber Rot-Grün mit Konsenspolitik nicht punktet – das hat die Regierung in Neuhardenberg auch festgestellt.