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Archiv-Artikel

Der diskrete Charme der Anarchie

Osterweiterung für europäische Ohren: Nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks hat die Musik der Zigeuner eine echte Renaissance erlebt. Nun werden die Roma-Orchester auch für die Tanzflächen der westlichen Clubkultur fit gemacht

von DANIEL BAX

Serbien sucht den Superstar. Einmal im Jahr, jeweils am letzten Wochenende im August, versammelt sich die musikalische Elite des Landes in der zentralserbischen Kleinstadt Guca, um die beste Blaskapelle der Saison zu küren. Der Sieger erhält die „Goldene Trompete“ und kann sich glücklich schätzen, denn die Trophäe ist bares Geld wert: Wer sie besitzt, der wird für die größten Hochzeiten und die wichtigsten Feiern des Jahres gebucht.

1961 von jungen Intellektuellen ins Leben gerufen, gegen den Widerstand der Behörden des Tito-Regimes, hat sich das Festival seitdem zur regelrechten Olympiade der Blasmusik ausgewachsen, die alljährlich Zehntausende Besucher aus aller Welt in die 3.000-Seelen-Gemeinde lockt. Drei Tage und drei Nächte dauert der Wettbewerb, bei dem die 50 besten Kapellen gegeneinander antreten, und überall riecht es nach Speck und Bier: Eine Art Love Parade der Blasmusik, deren Ruf so weit gedrungen ist, dass abgebrühte Wohlstandskinder aus dem entfernten Westen die Strapazen der Reise auf sich nehmen, um einmal an diesem Gipfeltreffen der Volksmusik teilzuhaben. Aber hat da jemand Volksmusik gesagt?

Der entfesselte Blaskapellen-Sound des wilden Ostens ist schließlich weltweit populär geworden, seit ihn Emir Kusturica durch Filme wie „Underground“ und „Schwarze Katze, Weißer Kater“ bekannt gemacht hat. Maßgeblich beteiligt an dieser Musik war das Orchester von Boban Markovic. Der Erfolg der Kusturica-Filme hat ihm nun auch im Ausland die Türen geöffnet. Inzwischen wird das elfköpfige Ensemble mit seinen Tubas, Pauken und Trompeten deshalb auch auf westeuropäischen Bühnen gebucht, und hat jeden dritten Tag irgendwo auf der Welt einen Auftritt. „Wir spielen überall: Mal vor hundert Menschen, mal vor 25.000 Menschen wie kürzlich in Wien“, erzählt ein erschöpfter Boban Markovic stolz nach seinem Auftritt beim Berliner „Heimatklänge“-Festival. Trotz seiner vielen internationalen Verpflichtungen aber schwört Boban Markovic auch heute noch auf die spezielle Atmosphäre von Guca: „Das sind für mich die schönsten Tage des Jahres.“

Glorie des Sozialismus

Das Boban Markovic Orkestar ist gewissermaßen der FC Bayern München unter den Blaskapellen der Region. Seit es 1988 zum ersten Mal in Guca angetreten ist, hat es den Wettbewerb mehr als zehn Male gewonnen. In diesem Jahr ist Boban Markovic deshalb nur als Gast in Guca, dafür hat er in einem lokalen Vorentscheid in der Jury gesessen. „Ich will Jüngeren den Vortritt lassen“, behauptet der Meister gönnerhaft. Angefangen hat auch er als Anheizer auf Hochzeiten, wie alle Gipsy-Kapellen des Balkans. Heute hat er dafür kaum noch Zeit. Allenfalls für eine Promi-Hochzeit lässt er sich buchen: Kürzlich etwa hat er für einen berühmten jugoslawischen Basketball-Star aufgespielt.

Auf dem Balkan gehören Roma-Ensembles wie das Boban-Markovic-Orchester bei Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten regelrecht zum Inventar, das hat Tradition. Die osteuropäische Folklore ist praktisch identisch mit dem Attribut „Zigeunermusik“, stellen Roma doch die Mehrheit der Musiker in der Region. Im privaten Rahmen waren sie stets wohl gelitten. Doch mit der öffentlichen Anerkennung ihrer Musik war das so eine Sache. Auch die Roma-Musiker der Region wurden gegängelt, und mussten sich staatlichen Folklore-Vorstellungen fügen. Das lässt sich gut an der Geschichte des Festivals von Guca nachvollziehen: Waren noch bis in die Siebzigerjahre hinein Propagandaschlager Pflicht – Märsche und patriotische Lieder, die etwa den Landbau glorifizierten – so weitete sich das Repertoire mit der Zeit. Frühe Aufnahmen entstanden eher beiläufig, und wurden nicht systematisch archiviert. Und weil die Plattenindustrie einem staatlichen Monopol unterlag, konnten sich auch kaum kommerzielle Karrieren entfalten. Es ist daher kein Zufall, dass es nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regimes zu einer Renaissance der Zigeunermusik kam – nicht nur im Ausland, sondern auch im ehemaligen Ostblock selbst.

Dabei gab es schon zu sozialistischen Zeiten durchaus Differenzen zwischen den einzelnen Staaten: Im ehemaligen Jugoslawien konnte eine Roma-Sängerin wie die mazedonische Diva Esma Redzepova immerhin zum nationalen Star avancieren, der vor Tito auf den Bühnen der sozialistischen Bruderstaaten auftrat. In Bulgarien dagegen, wo unter dem Shivkow-Regime gegenüber den Minderheiten des Landes ein strikter Assimilationskurs gefahren wurde, gab es weitaus weniger Aufstiegsmöglichkeiten.

„Früher hätten wir keine Chance gehabt“, gibt Jony Iliev zu, einer der Stars der neuen bulgarischen Musikszene. „Da wäre eine Karriere wie die meine nicht möglich gewesen.“ Der Sänger stammt aus der Stadt Kyustendil, einer ärmlichen Roma-Siedlung südlich von Sofia. Der 32-Jährige ist der jüngste Spross einer über Generationen reichenden Musikerfamilie, von seinen acht Brüdern spielen zwei in seiner Band mit. Als Nesthäkchen scheint Jony Iliev von einem mächtigen Ehrgeiz getrieben, sich in Szene zu setzen: Bei seinen Konzerten wirft er selbstverliebt seinen Kopf umher, um seine langen Haare wehen zu lassen. Dabei ist es seine Stimme, die ihn heraushebt. Schon als Zehnjähriger sang er auf örtlichen Hochzeiten. Inzwischen tritt er in Fernseh-Shows und den bekanntesten Clubs von Sofia auf. Seit 1991 hat er eine ganze Reihe von Kassetten und CDs herausgebracht, zuletzt stand sein Song „Godzilla“ monatelang an der Spitze der bulgarischen Charts.

Out of Kyustendil

„Der Durchbruch ist über Nacht gekommen“, behauptet Jony Iliev heute rückblickend, während er versonnen an seinem Goldkettchen zupft. „Erst nach der Wende hat man erkannt, dass diese Musik Qualität hat.“ Dass er heute auch außerhalb Bulgariens Engagements verzeichnet, hat Jony Illiev der kleinen Plattenfirma Asphalt Tango aus Berlin zu verdanken, die sein jüngstes Album auch im Ausland vertreibt. Das kleine Team von Enthusiasten hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Roma-Musik des Balkans ein Forum zu geben. Dafür stehen sie dem Künstler auch zur Seite, wenn es an die Produktion seiner Platte geht.

In den schmerztriefenden Balladen und dem tänzelnden Folkpop von Jony Iliev spiegeln sich die Einflüsse von Jazz, Klassik und mediterraner Musik. Zwei seiner Musiker, der Bassist und der Mann am Akkordeon, haben in Wien Musik studiert, der Rest stammt aus Kyustendil. „Es war schon immer unser Traum, diese Musik clubtauglich zu machen“, sagt Jony Illiev, und dass ihm das wohl gelungen sei, zumal er sich mit seinem verfeinerten Stil ja von der Menge der vielen bulgarischen Folk-Stars von heute abhebe. „Das Publikum ist schließlich auch reifer und wählerischer geworden.“ Jony Iliev hat sich mit seiner Musik aus dem Ghetto gespielt. Aber was ist mit Arbeitslosigkeit und Diskriminierung, die heute auf vielen Roma-Gemeinden lasten? „Ich habe nie darüber nachgedacht, ob die Zeiten gut oder schlecht sind“, bedeutet der Sänger salomonisch. „Die Zeiten sind nie gut.“

Das dürfte Stefan Hantel wohl anders sehen. Der Frankfurter DJ hat gerade einen Sampler mit ausgesuchten Balkan-Tracks herausgebracht, auf dem einige der bekanntesten Roma-Ensembles vertreten sind. Nun freut er sich über eine euphorische Kritik in der De:Bug, eigentlich ja eine Zeitschrift für elektronische Musik, und dass seine CD im Plattenladen im „Clubmusik“-Fach eingeordnet wird: Dadurch erreicht er schließlich ein anderes Publikum als die übliche Zielgruppe, die sich für Weltmusik erwärmt.

Zum Gespräch trifft er sich im italienischen Restaurant, die Sonnenbrille ins blondgewellte Haar gesteckt. Stefan Hantel hat sich als DJ und Produzent Shantel im elektronischen Zwischenreich von Dub, Downbeat und House einen Namen gemacht. Doch irgendwann wurde ihm die rein elektronische Musik zu langweilig. Als er dann auch noch zu einer abenteuerlichen Reise durch die unzugängliche Bukowina aufbrach – Grenzregion zwischen Rumänien und der Ukraine und Herkunftsort seiner Eltern –, war die Idee geboren, das musikalische Lager zu wechseln. Bei seinen „Bucovina Club“ genannten Partys, mit denen Shantel seitdem regelmäßig das Schauspielhaus Frankfurt aus den Fugen hebt, stehen nun die Gipsy-Gassenhauer des Balkans im Mittelpunkt. „Ich lege diese Musik so auf, wie ich sonst House-Platten auflege“, erzählt der DJ. „Und zu diesen Parties kommen Leute, die sonst zu House-Raves gehen.“

Daneben strömen aber auch viele Gäste aus Exjugoslawien in den „Bucovina Club“, was zur speziellen Atmosphäre beiträgt. Nicht selten geht es im Foyer des Frankfurter Theaters dann zu wie auf einer rauschhaften Hochzeitsfeier auf dem Balkan: Geldscheine werden in die Luft geworfen, und ganze Gruppen wiegen sich im Bauchtanzschritt. Es ist dieser süße Charme der Anarchie, der schon die Filme von Kusturica inspiriert hat und nun auch die Frankfurter Clubszene bereichert. „Ich verstehe das auch als Kritik an einer Clubkultur, die mir zu eindimensional und inhaltsleer geworden ist“, meint Shantel. Die selbstverständliche Verbindung von Volksmusik und Elektronik mag manchem dabei neu erscheinen. Doch „im Osten wird diese Kombination nicht als exotisch wahrgenommen“, hat Stefan Hantel auf seinen Reisen bemerkt. „Es zählt nur, ob es rockt. Wo es herkommt, spielt keine Rolle.“

Ihm selbst rockt die Balkan-Musik allerdings noch nicht genug. Zwar sind in Osteuropa durch die Demokratisierung der Produktionsmittel in den letzten Jahren Tausende von Aufnahmen entstanden, oft unter Einsatz von Synthesizern, Computern und Effektgeräten – nur wenige aber weisen einen qualitativ hochwertigen Sound auf.

Electric Gipsyland

Kürzlich erst stand Shantel mit Boban Markovic im Studio. „Das ist ein absolut geniales Orchester“, zeigt er sich begeistert. „Aber die meisten seiner Aufnahmen sind fantasielos produziert.“ Nun hat er für Boban Markovic einen House-Remix gefertigt, der dessen Blaskapellensound behutsam für die Tanzfläche fit macht. „Wir pumpen das auf, um der Musik die Kraft zu geben, die ihr gebührt“, erklärt er sein Konzept. „Die Bläser müssen einfach messerscharf kommen.“ Wie beim aktuellen HipHop strebt er die maximale Steigerung des Sounds an, um die optimale Durchschlagskraft zu erzielen. „Das muss im Autoradio so fett klingen wie ein Stück von 50 Cent“, findet Shantel.

Mittlerweile kann er sich vor Remix-Aufträgen für die etabliertesten Roma-Ensembles kaum noch retten. Gerade arbeitet er für das belgische Weltmusik-Label Crammed Disc an einer ganzen Remix-Compilation, die demnächst erscheinen soll. Der Arbeitstitel lautet: „Electric Gipsyland“. Dabei ist ihm sehr wohl bewusst, das er bei solchen Remixen dezent vorgehen muss, um der komplexen Rhythmik und Melodik der Vorlagen gerecht zu werden. Vom rein konservatorischen Ansatz mancher Ethnomusikologen, welche diese Musik grundsätzlich vor den Zumutungen der Moderne bewahren wollen, hält er naturgemäß nicht viel. Aber auch vor einer zunehmenden Kommerzialisierung, die diese Musik in eine zu starke Stromlinienförmigkeit pressen könnte, hat er keine Angst. Für solche Befürchtungen gebe es überhaupt keinen Anlass, so Shantel: „Das ist doch das Schöne an dieser Musik: Sie lässt sich nicht assimilieren.“

Boban Markovic Orkestar: Live in Belgrade (Piranha/EFA); Jony Iliev & Band: Ma Maren Ma (Asphalt Tango/ EFA); Verschiedene: Golden Brass Summit – 40 Years of Guca (Network/2001); Shantel: Bucovina Club (Essay)