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Archiv-Artikel

Die irren Häuser von Flandern

Die diesjährige europäische Kulturhauptstadt Lille setzt auf die Region und Industriekultur– ein Reisebericht aus Nordfrankreichs Kreativkapitale 2004

Lille ist nicht Essen: Wo wird das Revier 2010 sein Zentrum finden ?Maisons Folie, verrückte Häuser nennen sich die zwölf Fabriken der Künste

AUS LILLE MICHAEL KNEFFEL

Die eine ist schon angekommen, wo die andere erst hin will: Während sich Lille, im äußersten Norden Frankreichs gelegen, in diesem Jahr als europäische Kulturhauptstadt feiern darf, hat Essen bislang nur die erste Hürde in Nordrhein-Westfalen genommen. Bis 2005 muss sich die Ruhrstadt noch der nationalen Konkurrenz in Deutschland stellen. Und von Lille kann die Stadt Essen bestimmt einiges lernen: Beide Städte liegen in ehemaligen Industriegebieten und beide vertreten auch eine Region.

Wie die wahrscheinlich meisten Besucher von Kulturhauptstädten begeben wir uns zu zweit auf den Weg, mit dem eigenen PKW und dem Vorsatz, das Konto nicht übermäßig zu strapazieren. In Lille ist das allerdings schwierig – trotz Internetrecherche, Sprachkenntnissen und etlicher Telefonate. Unter 100 Euro pro Nacht findet sich kein Doppelzimmer. Die Suche geht in Roubaix weiter, das von Lille so weit entfernt liegt wie Gelsenkirchen von Essen. Zusammen mit einigen anderen Städten im Umkreis wurde Roubaix in das Programm der Kulturhauptstadt miteinbezogen. Das Kunst- und Industriemuseum von Roubaix ist eine Attraktion des Kulturhauptstadtprogramms Lille, untergebracht ist das Haus in einem ehemaligen Jugendstil-Hallenbad.

An einem Feiertagsmorgen brauchen wir von Essen aus knapp vier Stunden bis Roubaix-Zentrum. Umgeben ist es von prachtvollen alten Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert wie dem Hotel de Ville. Doch die Innenstadt ist wie ausgestorben, vor dem Hotel wenden wir uns fluchtartig wieder ab und beschließen, es doch in Lille zu versuchen: Die Niederlassung der Discount-Hotelkette in Roubaix hat den Charme eines Automatencafés in einem heruntergekommenen Bahnhof.

Dagegen ist Lille großartig. Gebäude aus verschiedenen Jahrhunderten bestimmen das Bild der Innenstadt: Handelskammer und Oper, die Prefecture und das Palais des Beaux Arts. Dazwischen befinden sich Straßenzüge, die Paris zur Ehre gereichen würden, Gassen mit Fachwerkbebauung, Viertel, die an Brügge oder Gent erinnern, und immer wieder flandrische Backsteinfassaden und Backsteingiebel. Lille brummt. Menschentrauben knubbeln sich vor Museen, in Straßencafés und vor der Touristeninformation. Trotz des Andrangs bleibt das Personal gelassen und freundlich. In Rekordzeit ist ein Hotelzimmer für 70 Euro pro Nacht in Bahnhofsnähe gefunden. Kein schlechter Ausgangspunkt, um Lille zu Fuß zu erkunden, das Auto bleibt derweil im Bahnhofsparkhaus.

Lille ist eine Kulturhauptstadt der kurzen Wege, gesäumt von so vielen Restaurants, Brasserien, Cafés und Bäckereien, dass man sich auch gut dem Charme der Konditoreien und Brauhäuser ergeben könnte. Ähnlich ist es mit den kleinen Geschäfte. Hier locken keine Filialisten, wie sie in allen größeren Städten Europas mit dem immer gleichen Sortiment zu finden sind. An Lebensqualität kann es das nordfranzösische Lille mit den Städten im Süden wie Aix-en-Provence oder Montpellier aufnehmen. Lille wäre auch eine Wochenendreise wert, wenn die Kultureinrichtungen für den Rest des Jahres geschlossen würden.

Wir beginnen unsere Besichtigungstour dennoch wie geplant in der Nachbarstadt Roubaix. Der vollautomatische, führerlose Zug der Metrolinie Transpole fährt dorthin ohne lange Wartezeit. Vom Hauptbahnhof dauert die Strecke knapp zwanzig Minuten, pro Person kostet die Tour 1,15 Euro. Wieder sind Straßen und Plätze wie ausgestorben. Nur vor dem Museum La Piscine verdichtet sich der Fußgängerstrom, um gleich darauf vom Haupttor abzuprallen und sich in Richtung der Parkplätze und Metrostationen wieder aufzulösen. Das Museum ist geschlossen. Der Feiertag, ein Auftakt für ein verlängertes Wochenende zieht zwar Menschenmassen aus Europa, aus Japan und China in die Kulturregion, doch einer der am stärksten beworbenen Ausstellungsorte des Kulturhaupstadtprogramms ist verschlossen. Plötzlich ist es ein bisschen wie im Ruhrgebiet, wenn trotz Feiertag der Gasometer in Oberhausen wieder einmal nicht geöffnet hat.

Doch Roubaix hat mehr zu bieten, etwa eines der so genannten Maisons Folie – ehemalige Fabrikanlagen, die grenzüberschreitend sogar bis nach Belgien zu außergewöhnlichen Orten der Ausstellung und Produktion von Kunst renoviert wurden und wichtiger Bestandteil des diesjährigen Kulturstadtprogramms sind. Das „Haus der Verrücktheit“ von Roubaix heißt La Condition Publique und müsste leicht zu finden sein. Denken wir. Doch wir müssen lernen, dass Kultureinrichtungen in dieser Region bei den Anwohnern so bekannt sind wie etwa das Design Zentrum der Essener Zeche Zollverein im angrenzenden Stadtteil Katernberg.

Schließlich findet sich doch jemand, der den Weg weiß. Kurz vor Schließung des Kulturzentrums, das in einer ehemaligen Textilfabrik angesiedelt ist, erreichen wir den ausladenden Komplex mit seinen verschieden Ausstellungen und haben noch Zeit zur Besichtigung. Zum Glück nimmt man es mit den Öffnungszeiten nicht so genau.

Die folgenden drei Tagen halten ähnliche Erfahrungen bereit. In den umliegenden Städten stehen wir einige Male erst nach längerem Suchen vor verschlossenen Türen. Viele Einrichtungen sind am Wochenende erst ab 13 Uhr öffnen oder gar nur von 15 bis 18 Uhr wie das Maison Folie in der Nachbarstadt Villeneuve d‘Ascq? Zum Glück gibt es auch auch Menschen wie den dort ausstellenden Senegalesen Ndary Lo, der einfach eine Tür für Besucher aufmacht.

Zurück in Lille kann man die Kulturstadt auch im Freien genießen, etwa bei einem der kostenlosen Akkordeon-Konzerte auf den Straßen im ältesten Teil der Stadt. Bei Moules Frites, den traditionellen Muscheln mit Fritten und Bier, kommt man dann schnell mit einem älteren englischen Ehepaar ins Gespräch, das erklärt, was es aus England in die Kulturhauptstadt gelockt hat: Nicht die Aussicht auf teure Hochkultur, sondern auf viele kostenlose Kulturangebote und eine vibrierende Atmosphäre im gesamten Stadtgebiet. Sie werden nicht enttäuscht worden sein.

Lille 2004 funktioniert so gut, weil es herausragende Events, Kultur für Kenner und hohe Lebensqualität miteinander verbindet und es neben vieler interessanter Ausstellungsorte und regionaler Spielstätten einen attraktiven Mittelpunkt gibt. Lille ist nicht Essen – am Ende eines aufregenden Wochenendes fragen wir uns: Welche Stadt, welcher Ort könnte 2010 im Ruhrgebiet Oberzentrum, Fluchtpunkt, Durchlauferhitzer und Ruhepol werden?