Zehn Euro für zwei Stunden Verspätung

70 Züge konnten am Sonntag nicht nach Plan fahren, weil ein 24-jähriger Mann damit drohte, auf die Gleise zu springen. Wie so häufig war die Informationspolitik der Bahn bescheiden, vor allem, was die Frage nach Reisegutscheinen anging

Bremen taz ■ Der Zug steht. Sollte eigentlich schon längst den Hannoveraner Bahnhof verlassen haben, auf dem schnellsten Bahnweg nach Bremen. Doch damit wird es so schnell nichts. „Die Weiterfahrt Ihres Zuges verzögert sich um unbestimmte Zeit“, sagt die Stimme aus dem Lautsprecher.

Genauere Informationen gibt es erst auf Nachfrage bei den angesichts des proppenvollen Sonntagabend-ICEs bewundernswert nervenstarken Zugbegleitern auf dem Bahnsteig. „Seit 18 Uhr fährt kein Zug mehr“, weder nach Bremen noch ins Ruhrgebiet. Seit fast zwei Stunden also. Hat denen das niemand vorher erzählt? Und was ist der Grund? „Suizid“ ist die knappe Antwort des Zugchefs. Ein Mann stehe auf einer Brücke bei Seelze kurz hinter Hannover und drohe damit herunterzuspringen, heißt es später. Um 21 Uhr soll dieser von der Polizei überwältigt worden sein, meldeten die Presseagenturen gestern am Tag danach und dass 70 Züge von der Streckensperrung betroffen waren. 3.905 Verspätungsminuten zählte die Bahn.

Der ICE aus Saarbrücken etwa wurde über Hamburg umgeleitet und kam nicht um 20 Uhr 48 in Bremen an, sondern zwei Stunden später. Die meisten Reisenden bleiben gelassen, zücken ihre Handys und informieren die Daheimgebliebenen über den aktuellen Stand. Wer davon Wind bekommen hat, lässt sich einen Reisegutschein ausstellen. Enttäuschte Gesichter, nur zehn Euro gibt es, die nur am Schalter eingelöst werden können. „Aber ich buche nur über das Internet“, jammert einer. „Sie können ihn ja weitergeben“, rät ihm die Zugbegleiterin, die darauf besteht, dass 25 Euro ab einer neunzigminütigen Verspätung nur dann spendiert werden, wenn ein Personenschaden vorliegt. „Außergewöhnliche Störungen“ präzisiert der Pressesprecher Jürgen Weihe. Ob ein versuchter Selbstmord diesen Tatbestand erfüllt – da ist er sich auch nicht ganz sicher. Aber darin: „Die Gutscheine gibt es nur im Zug.“

Theoretisch, denn praktisch steigen einige aus, bevor die Zugbegleiterin den letzten Waggon erreicht hat. In einem anderen ebenfalls verspäteten Intercity von Köln nach Bremen ist das Chaos noch größer. Dort gibt es keine Gutscheine mehr. „Außerdem wurde uns gesagt, die kriegt man nur im ICE“, sagt eine Mitreisende. Stimmt nicht, sagt der Bahnsprecher, die Bestimmung gelte für beide Fernzüge.

Den Grund für die unklaren Informationen sieht der Bielefelder Reiserechts-Wissenschaftler Rüdiger Schmidt-Bendun darin, dass die Bahn rechtlich nicht dazu verpflichtet ist für Verspätungen aufzukommen zumal wenn sie für diese nicht selbst verantwortlich ist. In solchen Fällen müssen nicht einmal Taxi- oder Übernachtungskosten übernommen werden. „Das Problem ist, dass es sich um reine Kulanz-Regelungen handelt, die unterschiedlich angewendet werden können.“ Deshalb schlägt das Bielefelder Institut in einem Gutachten für eine Bundesratsinitiative des Landes Nordrhein-Westfalen vor, Mindeststandards gesetzlich zu regeln. Aus Angst vor solchen Gesetzen, die zu Haftungen verpflichtet, habe die Bahn sich zu einer Selbstverpflichtungserklärung durchgerungen, die ab Oktober gültig werden soll.

Teuer könnte es dann wiederum für diejenigen werden, die eine solche Verspätung auslösen, wie am Sonntag der 24-Jährige, der mittlerweile in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Ob sie Schadensersatz verlangen will für gemietete Busse und Taxifahrten, sagt der Bahnsprecher Weihe nicht. „Das machen wir grundsätzlich nicht.“ Als Grund gibt er die Wiederholungsgefahr an, wenn über Selbstmorde und Suizidversuche berichtet würde. Kosten könnten auf den Mann dennoch zukommen, da der Bundesgrenzschutz prüft, ob er sich die Kosten für den Großeinsatz erstatten lässt.

Eiken Bruhn