: Die große Griechin
Töchter – Von Fußstapfen, Erbhöfen und Altlasten (Teil 1) Wenn Kinder profilierter Eltern Erfolg haben, wird das oft misstrauisch beäugt. Gerade Frauen wird gern nachgesagt, nur den väterlichen Erbhof übernommen zu haben. Doch Tochter-Vater- und Tochter-Mutter-Beziehungen können alles sein, zwischen Vorbild und Trauma, zwischen Nachmachen und Abgrenzen. Eine Portraitserie
aus Athen HEIKE HAARHOFF
Vorhin beim Staatsanwalt sollte sie sich noch einmal genau erinnern. Ob ihre Sicherheitsleute an jenem 13. Dezember 2002 vollzählig zum Dienst erschienen waren. Ob es vor ihrer Abfahrt ein Okay gegeben habe nach dem Motto: Straße observiert, keine Auffälligkeiten festgestellt, gute Reise. Und wo genau sie im Wagen saß, als die Schüsse fielen, die ihr galten und den Fahrer verletzten.
„Guten Tag!“ Eine tiefe, ruhige Stimme. Dora Bakoyannis, 49, erhebt sich hinter dem mächtigen Schreibtisch im Athener Rathaus, um ihren Besuch zu begrüßen. Es ist zwei Stunden nach ihrer Vernehmung. Halb Athen spricht darüber. Dora Bakoyannis ist entspannt. Das Attentat? Von sich aus erwähnt es die Bürgermeisterin nicht. Sagt nicht, stellen Sie sich vor, was mir gerade passiert ist, schrecklich, ich wurde gezwungen, mich noch mal an diesen Tag zu erinnern, den ich nur durch ein Wunder überlebt habe, weil ich just in dem Moment, als die Kugeln durch die Wagentür drangen, mich zufällig zu meiner Tasche am Boden beugte.
Sie führt durch ihr Arbeitszimmer, groß wie ein Ballsaal, die Decken mindestens 4,50 Meter hoch. Man kann sich hier verloren vorkommen.
Dora Bakoyannis füllt den Raum, und das liegt nur bedingt daran, dass sie 1,84 Meter groß ist, gern Absätze trägt und die Haare üppig, lang und schwarz. Liebevoll wischt sie im Vorbeigehen ein paar Körnchen Staub vom Fax, ja, sie ist hier zu Hause, und nichts kann sie dazu bringen, ihre Ruhe zu verlieren und auch nur eine Ahnung von Verwundbarkeit zu verraten. Nicht einmal ein Attentat, das sie nur knapp verfehlt hat.
Wem die Gewalt immer wieder vorgeführt worden ist, der entwickelt Schutzmechanismen. Dora Bakoyannis war noch nicht geboren, da saß ihr Vater, der Widerstandskämpfer und spätere griechische Ministerpräsident Konstantin Mitsotakis, zweimal in Todeszellen der deutschen NS-Besatzer auf Kreta. Sie war 13, als das Militär 1967 in Griechenland putschte, ihren Vater verhaftete, sie verhörte und die Familie ins Pariser Exil trieb. Als sie 35 war, zwei kleine Kinder hatte und die wiedererlangte griechische Demokratie längst zur Europäischen Gemeinschaft gehörte, erschossen Terroristen auf offener Straße ihren Mann, den Journalisten und Politiker Pavlos Bakoyannis. Jetzt ist sie 49, seit knapp einem Dreivierteljahr Bürgermeisterin, und diesmal hat die Gewalt unmittelbar ihr gegolten. Sie sagt kühl: „Ich erlaube niemandem, mein Leben zu einem Gefängnis zu machen.“
Ihre Wachen respektieren den Wunsch nach größtmöglicher Normalität. Wer zu ihr möchte und sich schriftlich angemeldet hat, muss weder Ausweis- noch Taschenkontrollen über sich ergehen lassen, sondern wird ohne Begleitung ins Vorzimmer im ersten Stock geschickt: „Wenn ich ständig ein Angstgefühl hätte, hätten sie ihr Ziel erreicht.“
Sie. Diejenigen, die Dora Bakoyannis ihre Herkunft und Popularität neiden. Die behaupten, dass sie in der patriarchalisch geprägten politischen Elite Griechenlands nur nach oben gekommen sei, weil sie einen Vater hat, der sich, 84-jährig und eigensinnig, benimmt wie ein Dynast, und einen Ehemann, der als politischer Hoffnungsträger galt und dann ermordet wurde. Erbbonus und Mitleidsfaktor also.
Nicht dass man ihr diese Vorbehalte ständig unter die Nase reiben würde. Ihre Partei, die konservative Nea Dimokratia, braucht dringend zugkräftige Führungsleute, und Parteichef Karamanlis gilt als farblos, verglichen mit Dora Bakoyannis. Wer es wagte, sie dennoch anzugreifen, dem wäre der Fluch der Familie gewiss. Und die ist mächtig.
Selbst die sozialistische Partei, die im vergangenen Jahr das Athener Rathaus an die Konservativen verlor, hütet sich vor Angriffen. Christos Papoutsis, ehemaliger EU-Kommissar und Bakoyannis’ Rivale bei der Bürgermeisterwahl, findet drei Wochen lang keine Gelegenheit für eine Einschätzung der Frau, die ihm seine Karriere in der Heimat vermasselt hat, nicht persönlich, nicht telefonisch, nicht per E-Mail, nicht per Fax. So eine Gelegenheit lässt man sich nur entgehen, wenn man den Gegner nicht ernst nimmt. Oder wenn man weiß, dass man ihm hoffnungslos unterlegen ist.
61 Prozent der Wähler haben Dora Bakoyannis ihre Stimme gegeben, das beste Ergebnis seit dem Krieg. Fragt man auf der Straße, wie die Bürgermeisterin Athens heißt, dann sagen die Menschen schwärmerisch: „Dora“, wahlweise „unsere Dora“. In Griechenland wird sie schon als nächste oder übernächste Ministerpräsidentin gehandelt. Vorausgesetzt, es gelingt ihr, Athen bis zu den Olympischen Spielen im kommenden Jahr von einer Großbaustelle in einen lebenswerten Ort zurückzuverwandeln. Vieles deutet auf ihren Erfolg hin: Die neue U-Bahn fährt bereits auf einem Teilstück, durch den einstigen Moloch der Innenstadt schlängeln sich Fußgängerzonen und Parks, und die Baugerüste an den antiken Stätten lassen hoffen, dass der Verfall gestoppt wird.
Dora Bakoyannis gehört nicht zu den Politikerinnen, die bei Spekulationen über höhere Ämter für sie mädchenhaft-verschämt tun und kokettierend „Was denn, iiiiich?“ rufen. Sie sagt: „Schauen Sie, zunächst einmal bin ich in Athen die Nummer eins. Der Grund dafür ist, dass ich immer ehrlich gewesen bin mit unseren Landsleuten, was nicht leicht ist in der Politik.“ Sie sagt das in perfektem Deutsch, ebenso könnte sie ihre Interviews auf Französisch oder Englisch geben. Sie tut so, als sei solche Weltläufigkeit normal.
Natürlich ist Konstantin Mitsotakis an diesem Eindruck beteiligt. Nach dem Ende der Diktatur machte der nach Griechenland zurückgekehrte Politiker seine Tochter zunächst zu seiner Büroleiterin, später, da war er Ministerpräsident, zur Kulturministerin.
Die Tochter in seinem Imperium unterzubringen war nicht schwierig: Machtwechsel in Griechenland vollziehen sich seit Jahrzehnten weniger zwischen Parteien denn zwischen zwei Familien, den Papandreous und den Mitsotakis. Einst stritten sie für dieselbe Partei, die Zentrumsunion. Die Abspaltung des Mitsotakis-Clans nach einem Streit um König Konstantin II. im Jahr 1965 jedoch begründete die bis heute dauernde Feindschaft zwischen den Familien und stürzte das Land ins Chaos. Verziehen haben die Griechen Mitsotakis das nie. „Unheilsbringer“ nennen ihn viele. Aber Macht lässt sich auch bei mäßiger Beliebtheit ausbauen.
Und da soll man glauben, dass ihr Vater heute keinen Einfluss auf sie nimmt? Dora Bakoyannis neigt den Kopf, als sei sie der Fragerei müde. Sie sagt: „Die meisten Politiker Griechenlands hören meinem Vater zu, wenn er etwas zu sagen hat.“ Es klingt arrogant, und das soll es wohl auch. Das Gewicht ihres Vaters, latenter Nepotismus-Verdacht, sie möchte sich nicht mehr damit beschäftigen. Schließlich schiebt sie doch eine Erklärung nach: „Man kann niemanden im Vakuum großziehen. Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht die Erfahrungen hätte, die auch ihn geprägt haben: das Gefängnis, das Leben im Exil.“
Die Jahre in Paris, die Einsamkeit in einer Stadt, von der alle sagen, sie sei die der Liebe, aber die man nicht lieben kann, wenn man 13, 15, 17 ist und unfreiwillig hier festsitzt und nur wegwill, denn was nützt einem die Gesellschaft der vielen anderen Exilierten, die einen mit ihrer Intellektualität und ihrer Politisiererei und ihrer Hoffnung auf Europa bloß erdrücken, wenn man in Wirklichkeit Heimweh hat nach dem klaren Licht, dem blauen Himmel und dem Meer und vor allem nach den Freunden zu Hause! „Wenn man im Leben nicht vergessen kann, dann ist alles verloren“, sagt ihr Vater zu dieser Zeit, aber der hat gut reden, denn was soll sie denn vergessen? Dass sie Griechenland vielleicht nie wiedersehen wird? Dass Regieren neuerdings eine Frage der Waffenstärke ist?
Die Erkenntnis, dass freie Wahlen und Meinungsfreiheit nicht selbstverständlich sind, habe sie zur kompromisslosen Demokratin gemacht, sagt ihre Sandkastenkameradin, die Journalistin Antonia Papadomanolakis. Bis heute telefonieren die beiden fast täglich: „Sie ist meine Herzensfreundin. Wenn Dora sich für eine Sache stark macht, dann ist sie mit Feuer und Flamme dabei.“
Aber warum brennt sie ausgerechnet für die Partei des Vaters? Jede linke Partei würde sich doch reißen um eine Politikerin mit ihrer Ausstrahlung und ihrer Biografie. Dora Bakoyannis ist gegen Abwerbeversuche immun. Mittlerweile.
Sie lächelt. „Ich war eine Zeit lang viel linker, als ich es heute bin“, erklärt sie. Doch Träume allein seien auf Dauer unbefriedigend, und, nein, sagt sie spöttisch, noch bevor die Frage gestellt ist, diese Weisheit verdanke sie nicht ihrem Vater, da sei sie allein drauf gekommen. Wieder diese Vaterfragen. Sie kann barsch werden. Sie sagt: „Um soziale Gerechtigkeit zu schaffen, braucht man gute Wirtschaftsergebnisse.“
Man kann das vor Ort überprüfen. Fünf Stunden schiebt sich der Bus von Athen nach Karpenissi in Zentralgriechenland, über Bergstraßen und durch Schluchten. Hier, in den Dörfern der Region Evritania, eine der ärmsten Griechenlands, liegt Dora Bakoyannis’ ehemaliger Wahlkreis. Dreimal holte sie ihn in den 90er-Jahren, bevor sie aus dem Parlament ins Athener Rathaus wechselte. Sie, die Konservative, die nach dem Tod ihres Mannes jeden Wahlkreis hätte fordern können, entschied sich dafür, seine politische Arbeit fortzusetzen, entschied sich für Evritania, die Region, aus der Pavlos Bakoyannis stammte und in der traditionell sozialistisch gewählt wurde. Aber mit ihrer Parteizugehörigkeit hat ihre Beliebtheit nichts zu tun.
„Dora“, sagt der Busunternehmer George mit verklärtem Blick, und dann schweigt er erst mal andächtig. „Sie kommt regelmäßig her, sie hat sogar ein Ferienhäuschen in unserer Region, ich glaube, sie liebt uns.“ „Dora“, sagt die Verwaltungsbeamtin Helen, „o ja! Sie hat unsere arbeitslosen Jungs und Mädchen nach Athen geholt und ihnen gute Jobs gegeben.“ „Dora“, sagt der Supermarktbesitzer Yannis, „sie hat viel Geld ins Dorf gebracht und gehalten, was sie versprochen hat.“ „Dora“, sagt der Weinhändler Kostas, „sie hat uns den neuen Tunnel durch die Berge gebaut, aus Brüssel hat sie das Geld besorgt, und viele aus dem Dorf durften mitarbeiten.“ Er hebt die Hände wie zum Gebet. „So ist Dora.“