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Archiv-Artikel

Ein Obdach im Internet

Ein Hamburger Obdachloser bittet online um Spenden. Das Projekt heißt „Aktion Uwe“ und soll ihn von der Straße wegholen. Später möchte er ein Nachtcafé für Obdachlose eröffnen, das Geborgenheit und Gemeinschaft bietet

„ Im Winter ist es kalt auf der Straße, und alle Schlafplätze sind im Nu vergeben. Nachts muss man frieren – oder sterben.“

VON JOHANN TISCHEWSKI

„Machen sie bitte den Tisch frei“, fordert der Kellner diskret. Uwe und Ole sind gerade gekommen und haben noch nicht bestellt. Uwe will schon aufstehen, als Ole seine Hand auf Uwes Schulter legt und dem Kellner freundlich entgegnet, dass sie gleich etwas bestellen werden. Der Kellner nickt und verschwindet.

Ole und Uwe sind ein Paar, das ungleicher nicht sein könnte. Ole ist Student der Sozialwissenschaften, war Praktikant bei den Vereinten Nationen in New York und hat an Hilfsprojekten in Afrika mitgewirkt. Er trägt einen Anzug, weil er gerade von einem Bewerbungsgespräch bei einer Firma kommt, die Umweltkonzepte erarbeitet. In seiner Freizeit engagiert er sich sozial im Internet. Über Internetcommunities wie Facebook oder MySpace treibt er Spenden für verschiedene Hilfsprojekte ein. Online-Fundraising nennt sich das. Er schreibt seine Diplomarbeit über dieses Thema.

Uwe dagegen war noch nie in New York. Im Internet war er auch noch nicht. Er ist seit sieben Jahren obdachlos. Seit drei Jahren weiß er, dass er HIV-positiv ist, seit sechs Monaten nimmt er keine Drogen mehr. Er trägt eine warme Winterjacke und eine Mütze, die über die Ohren reicht. In seiner Freizeit geht er gerne in Parks und beobachtet die Natur: den Wechsel der Jahreszeiten. Wer auf der Straße wohnt, erlebt die Jahreszeiten intensiver als andere Menschen.

Was die beiden Männer verbindet, ist ein gemeinsamer Traum. Eigentlich ist es Uwes Traum, aber Ole konnte ihn für sich adaptieren. Es ist ein Traum, wie er schöner – und schlichter – nicht sein könnte: Die beiden wollen, dass Uwe von der Straße kommt. Dass er einen Job findet und ein Nachtcafé für Obdachlose aufmacht. Ein Ort soll das sein, an dem Obdachlose in kalten Nächten einen warmen Tee, Holundersaft oder Kakao bekommen können. Ein Platz zum Ausruhen eben. Es soll keine Schlafgelegenheit sein, sondern Geborgenheit vermitteln. Alkohol soll es nicht geben.

„Wir hätten gerne zwei Kakao“, teilt Ole dem Kellner inzwischen mit. Er hat Uwe vorher nicht gefragt, was er trinken will. Es scheint ein Einvernehmen darüber zu geben, dass heute Kakao getrunken wird. Die beiden scheinen sich gut zu kennen. Dabei sind sie sich erst vor zwei Wochen das erste Mal begegnet.

Es war an Uwes fünfzigsten Geburtstag. Uwe haute Ole damals auf der Mönckebergstraße an. Er habe Geburtstag, sagte er, ob Ole ihm vielleicht etwas helfen könne. Das tat Ole. Er lud ihn zum Essen ein und gab ihm das Geld für eine Nachtunterkunft. Die beiden redeten eine Weile über Gott und die Welt, bis Uwe Ole schließlich von seinem Traum erzählte. Ole verwandelte den Traum in ein Ziel, und den Weg dorthin entwarf er gleich mit: die Aktion Uwe.

Auf einer Internetseite wird jetzt alle paar Tage über Uwes Erfahrungen und Fortschritte berichtet. Gleichzeitig haben die Nutzer die Möglichkeit, Geld an Uwe zu überweisen und ihm Nachrichten zu übermitteln. Uwe antwortet auf diese Nachrichten, meist in Form kleiner YouTube-Clips. Die Idee ist, dass durch die Spendensammlung im Internet mehr Geld aufgetrieben werden kann, als auf der Straße – und dass mehr gespendet wird, wenn der Spender seine Spende an einen konkreten Zweck gebunden sieht.

Der erste Erfolg gibt ihm recht: Nach nur 24 Stunden waren bereits über 60 Euro für Uwe auf Oles Paypal-Konto eingegangen. Heute – nach gut zwei Wochen – sind es schon fast 300 Euro. Hinzu kommen jede Menge Sachspenden. Eine warme Jacke, eine neue Hose und eine Mütze von einem Spender aus Nordamerika sind dabei. Ole ist gut vernetzt.

Manchmal beschreibt Ole sein Projekt in Wörtern, die Uwe nicht versteht: Socialblogging, Xing-Communities, Fundraising 2.0. Uwe gibt sich in solchen Momenten viel Mühe, so zu tun, als sei er gar nicht da. Er starrt in seinen Kakao und gibt keinen Mucks von sich. Erst wenn das Gespräch wieder aufs Nachtcafé kommt, wacht er auf.

„Es gibt so etwas nicht in Hamburg“, berichtet er, „im Winter ist es kalt auf der Straße, und alle Schlafplätze sind im Nu vergeben. Tagsüber gibt es Essen, nachts muss man frieren – oder sterben.“

Er spricht aus Erfahrung. „Viele gute Leute habe ich da draußen verloren“, sagt er. Fünf Jahre lang hat er mit einem anderen Obdachlosen zusammen Platte gemacht. Sie haben gemeinsam auf der Straße geschlafen. Unter Obdachlosen können solche Freundschaften Leben retten. Das Leben seines Freundes konnte Uwe jedoch nicht retten. Als er nach einer Nacht im Krankenhaus zu ihren gemeinsamen Schlafplatz zurückkehrte, empfing ihn die Polizei. Über die Todesursache seines Freundes wurde er nie aufgeklärt.

Dem Obdachlosen-Straßenmagazin Hinz & Kunzt zufolge sterben in Hamburg jährlich etwa 50 bis 75 Menschen auf der Straße – die meisten an Drogen oder Kälte. Viele Obdachlose ziehen dennoch die Straße gegenüber den Notunterkünften vor. Grund dafür sind nach Angaben der meisten Obdachlosen der Mangel an Privatsphäre und ausreichender Hygiene in den Unterkünften sowie die Angst vor Raub und Gewalt.

Eine Studie der Stadt Hamburg aus dem Jahr 2002 belegt zudem, dass „das Angebot an adäquaten Wohnraum für obdachlose Menschen bei weitem nicht ausreichend ist“. Zwar wurden zuletzt neue Schlafgelegenheiten geschaffen, aber Experten gehen davon aus, dass der Bedarf damit nicht gedeckt ist.

Uwe ist ein vorsichtiger Mensch. Normalerweise würde er sich nicht anderen Menschen einfach so anvertrauen. „Ole war nicht der Erste, der mich zum Essen einlud. Meine Geschichte behielt ich aber immer für mich. Das ging niemanden etwas an.“

So ist Uwe zunächst auch der Aktion Uwe gegenüber skeptisch. Schließlich muss er der Öffentlichkeit sehr viel über sich Preis geben. Das erfordert viel Vertrauen, und er hat Angst, ausgenutzt zu werden. Darüber hinaus fällt es ihm schwer, Hilfe anzunehmen, ohne etwas dafür zu tun. Auch das Internet ist ihm nicht ganz geheuer. „Weißt du, für mich ist das neu. So etwas habe ich noch nie gemacht – mit Internet und so“, gesteht er Ole. „Für mich auch, Uwe“, entgegnet Ole ihm, „so etwas habe ich auch noch nie gemacht. Mit Obdachlosen und so.“ Und genau das könnte der Haken an der Sache sein. Uwe meint: „Ole weiß, glaub ich, gar nicht so recht, worauf er sich da eingelassen hat. Es ist nicht gerade leicht mit mir.“ Uwe war schon ein mal für einige Tage verschwunden, kam nicht zu Verabredungen und war auch nicht zu erreichen. Ein Handy lehnt er ab. Obdachlose brauchen häufig mehr als nur finanzielle Hilfe. Auch Uwe hat unangenehme Erfahrungen gemacht, die noch nicht verarbeitet sind.

Aber Ole ist optimistisch: „Einen Versuch ist es auf alle Fälle wert.“ Seit die Aktion begonnen hat, scheint es Uwe zunehmend besser zu gehen – sowohl körperlich als auch seelisch. Wenn er über das Nachtcafé redet, gerät er ins Schwärmen. „Nachts, wenn ich alleine bin, male ich mir alles vor meinem inneren Auge aus – das beruhigt mich dann.“ Er könne es gar nicht mehr erwarten, dass es endlich richtig losgehe, erzählt er. „Er hat das Gefühl, endlich wieder etwas zu Sinnvolles zu tun“, meint Ole.

Seine anfängliche Skepsis hat Uwe offensichtlich abgelegt. „Ole ist der zweite Mensch in meinem Leben, bei dem ich wirklich sicher bin, dass ich ihm vertrauen kann“, meint er. Dann hält er jedoch einen Moment inne und sagt: „Ich hoffe, dass ich nicht enttäuscht werde.“

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