: Zweimal Karriere
Fotograf der großen proletarischen Kulturrevolution: Das Pariser Museum Hôtel de Sully zeigt Bilder des chinesischen Pressefotografen Li Zhensheng
von DOROTHEA HAHN
Als Li Zhensheng seine Fotografenkarriere begann, war China in Aufruhr. Allerorten wurden „Kleinbürger“, „Konterrevolutionäre“ und andere „schlechte Elemente“ denunziert. Sie mussten Selbstkritik üben, Eselsmützen aus Papier aufsetzen, sich mit schwarzer Tinte bespritzen lassen und mit gesenktem Kopf und Schildern, auf denen ihr Name durchgestrichen war, durch die Straßen paradieren. Anschließend verschwanden sie in Umerziehungslagern, in Arbeitskolonien oder vor Erschießungskommandos. Rotgardistische Revolutionäre begleiteten das Treiben mit Parolen: „Nieder mit den Revisionisten“. Und: „Sterben, um das ZK der KP China zu verteidigen“. Und: „Lang lebe der große Vorsitzende Mao“.
Der Pressefotograf Li Zhensheng nahm in der nordöstlichen Provinz Heilongjiang an der „großen proletarischen Kulturrevolution“ teil. Mit einer 35-mm-Kiev und einer 6x6-Rolleiflex hielt er fest, was dort in den Jahren zwischen 1966 und 1976, geschah. Seine Schwarzweißbilder zeigen Fahnen schwenkende, lachende junge KP-Mitglieder, hart arbeitende, glückliche Bauern und kämpfende Rotgardisten. Li Zhenshengs Bilder erschienen täglich in der KP-Zeitung der Drei-Millionen-Stadt Harbin. Bei Bedarf retuschierte er sie für die Veröffentlichung, machte ein Mao-Porträt größer oder das ärmliche Interieur eines Bauernhauses glänzender. Zugleich dachte er an die Zukunft. Er vergrub tausende sorgfältig beschrifteter Fotos – sowohl veröffentlichte als auch unveröffentlichte – unter Holzplanken.
Auch ohne Kamera machte Li Zhensheng alle Wendungen der Kulturrevolution mit. In seiner Zeitung organisierte er eine „Gruppe der kämpfenden roten Jugend“. Er trug eine Armbinde, die ihn als Rotgardisten auswies. Und er präsidierte Sitzungen in seiner Zeitung, bei denen Kollegen wegen „bourgeoiser Tendenzen“ aus der Redaktion gesäubert wurden. 1969 geriet Li Zhensheng selbst ins Visier der Revolutionäre. Als „neuer Kleinbürger“ verschwand er für zwei Jahre auf dem Land. Bei seiner Rückkehr erwartete ihn eine Beförderung: Er wurde Chef der Fotoredaktion.
Die Originale aus der Kulturrevolution, die im Boden von Heilongjiang vergraben waren, überlebten die Machtwechsel in China dank der eisigen Kälte im Winter und der trockenen Hitze im Sommer unbeschadet. Als Li Zhensheng sie in den 80er-Jahren wieder auspackte, galt die Kulturrevolution offiziell als „Irrtum“. Mao, der sie genutzt hatte, um die Macht zurückzuerobern, war seit 1976 tot. Aber für den 1940 geborenen Fotografen Li Zhensheng begann eine neue Karriere, denn er ist der einzige Chinese, dem es gelungen ist, eine umfassende Bilddokumentation aus der Kulturrevolution zu erhalten. 1988 gewann er einen Preis in China. Angesichts seiner Bilder von Tempelzerstörungen, Bücherverbrennungen, öffentlichen Erniedrigungen und Hinrichtungen benutzten selbst chinesische Regierungsmedien das Wort „Schock“.
Jetzt sind die Bilder auch im Westen zu sehen. Das Pariser Museum Hôtel de Sully hat 140 für eine Ausstellung ausgewählt. Selbst jene, die früher Propagandazwecken dienten, erzählen jetzt andere Geschichten. Unter anderem wegen der Begleittexte, die erklären, was außerhalb der Reichweite des Objektivs passierte. Zum Beispiel in den Familien der in Ungnade Gefallenen.
Fotos zeigen einen hohen kommunistischen Funktionär, der als „Karrierist“ enttarnt wird, sich im Stadion von Harbin auf einen klapperigen Stuhl stellen muss und vor einer johlenden Menschenmenge mit erhobenen Fäusten geschoren wird. Der Text erzählt, dass die Tochter den Karrieristen des sexuellen Missbrauchs bezichtigte. Die Tochter erhielt einen begehrten Posten in der Armee. Der Vater verzieh ihr nie. Auch nicht, als sie ihn auf Knien anflehte. Anders reagierte der Sohn eines einflussreichen Kommunisten, der ebenfalls in Ungnade gefallen war. Er verteidigte die Unschuld seines Vaters – und wurde von Rotgardisten durch die Straßen von Harbin gezerrt. Fotos zeigen, wie der Sohn den Mund öffnen will, um etwas zu rufen, und wie ihm seine revolutionären Peiniger einen Handschuh hineinstopfen. Wenige Tage später kam der Sohn um. Durch „Selbstmord mit einem Fenstersturz“ – das war eine häufige Todesursache im kulturrevolutionären China.
Während in dem größten Land der Erde hunderttausende Menschen der Kulturrevolution zum Opfer fielen, machten die westlichen Regierungen Kotaus vor den Revolutionären in Peking. Doch das kommt in der Ausstellung im Hôtel de Sully nicht vor. Sie enthält nichts über die französische Eile, die VR China diplomatisch anzuerkennen. Nichts über die schnelle Aufnahme des Pekinger Regimes in die UNO. Nichts über US-Präsident Nixon, der beim China-Besuch 1972 Chairman Mao hofierte. Und nichts über die Agitationen der Mao-Anhänger in der westlichen Welt, die selbst die brutalsten chinesischen Entwicklungen noch als „revolutionäre Notwendigkeit“ rechtfertigten.
„Li Zhensheng – ein chinesischer Fotograf in der Kulturrevolution“ konzentriert sich ganz auf die Szenen einer nicht einmal 30 Jahre zurückliegenden Katastrophe in der chinesischen Provinz. Zugleich ist es eine Ausstellung über einen wendigen Fotografen, der es geschafft hat, zweimal Karriere mit der Kulturrevolution zu machen: einmal mittendrin und dafür und einmal hinterher und dagegen.
Bis 21. 9., Hôtel de Sully, 62 rue Saint-Antoine, 75004 Paris, Katalog 39,93 €